Keno Harriehausen Quartet – Shapes of Now
Gleichermaßen impressionistische Momentaufnahme und ein kollektiver Beitrag zum State of the Art. Keno Harriehausen Quartet zeigt, wie es weniger Mittel man bedarf, um mit Musik eine größtmögliche Wirkung zu entfalten. (Hin)Hören….Weitertragen!
Musik oder Kunst allgemein entfacht immer dann den größten Wirkungsgrad, wenn sie direkt aus dem Leben schöpft. Das jeweilige Abstraktionsniveau ist dabei völlig nebensächlich. „Shapes Of Now“, das zweite Album des Keno Harriehausen Quartetts, ist ein solches Kunstwerk. Es strotzt nur so von Bezugssystemen und Referenzen, an denen sich das wissende Ohr festhalten kann, aber das Wesentliche ist die betörende Dringlichkeit der unmittelbaren Lebenserfahrung, die den Ursprung und die Basis dieser Musik bildet.
Das Album beginnt wie eine Ankunft. Aus scheinbaren Alltagsgeräuschen schält sich erst Harriehausens Klavier heraus, Cello, Bass und Saxofon stoßen hinzu. Koffer abstellen, Durchatmen – hier will ich verweilen. Das Panorama wird in Augenschein genommen, und schon beginnt sich eine Welt aus Rückblicken, Rundblicken und Ausblicken zu entfalten. Es ist kein abstraktes Szenario, in das uns das Keno Harriehausen Quartett mitnimmt, sondern eine unmittelbare Reaktion auf die Monate, die hinter uns liegen. Gefühlte Jahrzehnte, in denen wir scheinbar von unserer Biografie getrennt wurden. Alles, was hernach kommt, kann nur ein Neuanfang sein. Die Wucht, mit der das Leben selbst auf diese Musik zugreift, ist überwältigend. „Als ich im Vorfeld über das zweite Album nachdachte“, rekapituliert der Pianist, „fand ich es ganz interessant, nach externen Punkten zu suchen, an denen man die Musik festmacht. Aber ich spürte ganz schnell, dass das bei mir nicht funktioniert. Ich kam zu dem Schluss, dass ich nur von meinem eigenen Inneren ausgehen kann. Das Album hat viel damit zu tun, wie ich die letzten Monate erlebt habe.“
Auf beeindruckende Weise gelingt es Harriehausen, eine Balance zu finden zwischen den dystopischen Visionen, die in den Monaten des Lockdowns wohl jede Künstlerpersönlichkeit überkamen, und den hoffnungsvollen Momentaufnahmen des Lebens. Seine Naturwahrnehmung war intensiver denn je, auch seine unmittelbare häusliche Umgebung hat er mit geschärften Sinnen zu schätzen gelernt. Gerade in Momenten der Isolation öffnete er alle Türen. All diese Prozesse und Zustände werden auf dem neuen Album reflektiert. Es ist ein Rausch der Farben, eine fortwährende Verhandlung kosmischer Gedankenbögen mit den Details der situativen Wahrnehmung, ein vielgestaltiges Wechselspiel des sich Verlierens und Wiederfindens.
Gerade hinsichtlich der letztgenannten Aspekte weist Harriehausen auf seiner zweiten CD eine enge Verwandtschaft mit der klassischen Musik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf, ohne auf ausgetretenen Pfaden zu wandeln. Dokumentierte das selbstbetitelte Debütalbum des Quartetts noch seine Klassik-Wurzeln aus der Jazz-Perspektive, hat sich auf „Shapes Of Now“ der Fokus verschoben. Das klassisch-romantische Moment rückt stärker in den Mittelpunkt einer musikalischen Weltwahrnehmung der Gegenwart. Das Korsett des Tradierten wirft er dabei vollständig ab. Jazz ist eine zusätzliche Duftnote, eine Haltung, welche die Kompositionen umfängt. Harriehausen ist ein exzellenter Pianist, aber diesmal tritt er noch selbstbewusster als auf dem ersten Album als Komponist in den Vordergrund. Der tradierte Dualismus von Komposition und Improvisation hebt sich nahezu vollständig auf.
Auffällig ist im Vergleich zum ersten Album eine viel größere Dominanz des Cellos. Die Kompositionen und das ganze Klanggebäude scheinen ums Cello aufgebaut zu sein. Neben den Langzeitmitgliedern des Quartetts, Saxofonist Karlis Auzins und Bassist Andris Meinig, ist Cellistin Maya Friedman neu hinzugekommen und gibt dem Ensemble eine neue Prägung. Mehr noch als die anderen Mitglieder der Gruppe ist sie in der Klassik verwurzelt. Der ausgeprägt holistische Charakter, der aus den vier Individuen der Formation einen festgefügten Klangkörper machte, wird durch Maya Friedman sogar noch verstärkt. Das Keno Harriehausen Quartet ist im besten Sinne des Wortes ein symbiotisches Kammerensemble.
Es gibt jedoch auch viele Facetten des ersten Albums, die das Quartett auf seinem zweiten Streich weiterführt. Als Komponist und in Noten denkender Philosoph geht es Harriehausen nach wie vor nicht nur um seine Musik selbst, sondern auch um deren Wirkung. Die komplexe Verschachtelung unterschiedlicher Wahrnehmungs- und Reflexionsebenen ist ihm ebenso wichtig wie die Stellung seiner Musik in der Gesellschaft. In einer Zeit, in der Diffamierung wieder opportun geworden ist, setzt er auf die vielschichtigen Feinheiten des Zuhörens. Aus der Besetzung von Piano, Tenorsaxofon, Cello und Bass entsteht ein Kosmos, dessen Bewegungs- und Entfaltungsrahmen unerschöpflich ist. Hinzu kommt, dass die Mitglieder aus Deutschland, Russland und Lettland stammen und somit weitaus besser als die derzeitige Politik den Gedanken einer europäischen Identität verkörpern. Harriehausen gelingt, woran die Politik seit Jahrzehnten scheitert: Er verliert sich nicht im Pragmatismus des bestmöglichen Kompromisses, sondern geht zum Wohle des Ganzen mit der radikalen Vereinigung der Gegensätze ins Extrem. Kurz, bei „Shapes Of Now“ handelt es sich um nicht weniger als eine Utopie im Hier und Jetzt.
„Shapes Of Now“ ist ein Album zum Hinhören, aber mehr noch Musik zum Weitertragen, Nachwirken und Diskurs. Gleichermaßen impressionistische Momentaufnahme und individuell kollektiver Beitrag zum State of the Art, zeigen Keno Harriehausen und sein Quartett, wie weniger Mittel man bedarf um mit Musik eine größtmögliche Wirkung zu entfalten.
Lakeland Records LLRCN14 / LC 50503 / 0741807649718 /
Vertrieb: https://lakelandrecords.bandcamp.com/
Veröffentlichung: 22.02.2022