HIMOYA – s/t
Eine der interessantesten Mischformen aus Jazz und Pop. Entrückte Ohrwurm-Melodien, Rhythmen und Strukturen, und am Ende die Texte, die Geschichten von Nähe, Liebe und Verlust erzählen
Das erste, was einem an der Musik von Himoya auffällt: wie ungewohnt und unverhofft schön es klingen kann, wenn sich Jazz-Sensibilität mit Synthiepop verbindet. Himoyas selbstbetiteltes Debütalbum eröffnet neue Wege, in Richtung einer bislang ungehörten, symbiotischen Verschmelzung von Jazz und Pop. Ständig passiert etwas Überraschendes in diesen Songs, und trotzdem klingen sie unmittelbar einladend.
Das zweite ist, wie erstaunlich warm Synthesizer-Klangflächen sein können. Das Wort „Himoya“ bedeutet übersetzt Schutz, und das beschreibt wunderbar diesen Sound, in dem man sich als Hörerin und Hörer geborgen fühlen kann. Die Band versteht sich als Gemeinschaft in einem geschützten Raum, von dem aus vier Musiker:innen gemeinsam auf musikalische Suche gehen. „Alle vier gleichberechtigt und ohne Angst, auch mal eine Idee mitzubringen, die dann doch nicht funktioniert“, erzählt Sängerin Julia Ehninger.
Bestimmt werden die Stücke des Quartetts von der glasklaren Stimme Ehningers, die sich in den letzten Jahren zu einer der vielseitigsten und stimmlich beweglichsten Jazz-Sängerinnen hierzulande entwickelt hat. Und von den Synthesizern, die der Pianist Jonathan Hofmeister spielt: „Am Anfang der Stücke steht immer die Klangforschung“. Ausgehend vom Sounddesign entwickelt sich dann alles Weitere: entrückte Ohrwurm-Melodien, Rhythmen und Strukturen, und am Ende die Texte, die Geschichten von Nähe, Liebe und Verlust erzählen und keine Angst vor den großen Lebensfragen haben. Das Klangspektrum, das sich hier entfaltet, ist enorm, trotz aller Vielseitigkeit ist eine klare Handschrift aber immer erkennbar: von den weichen Flächen im Song „Have You Ever Tried“ über die filigranen Loops in „Thin Air“ bis zu den melancholischen Miniaturen in „Void“.
Nicolai Amrehn und Jeroen Truyen legen am Bass und Schlagzeug mehr als nur die Grundlagen für das alles, sondern stellen die Verbindung zwischen Pop und Jazz her. Man realisiert erst beim zweiten oder dritten Hören wie rhythmisch ideenreich es ist, was die Rhythmussektion hier veranstaltet – hier ein Stolpern, da eine kurze Improvisation. Der Popentwurf von Himoya lebt von den zahlreichen musikalischen Details, in denen der verborgene Teil der Schönheit dieser Musik steckt.
Das funktioniert wohl auch deswegen so gut, weil Nicolai Amrehn, Jeroen Truyen, Jonathan Hofmeister und Julia Ehninger seit Jahren in verschiedenen Konstellationen zusammenspielen. Auf Ehningers 2019 erschienenem Soloalbum „Hidden Place“ sind sie bereits zu hören, außerdem haben die vier als Julia Ehninger Quartett zahllose Konzerte gespielt. Aus diesen eher klassischen Jazz-Formaten hat sich organisch Himoya und damit eine der interessantesten Mischformen aus Jazz und Pop seit langer Zeit entwickelt.
Diese Band ist eine der experimentierfreudigsten Unternehmungen, wenn es darum geht, jenseits von Impromusik die Grenzen des Jazz auszuloten. Die Synthesizer-Exkursionen auf Craig Taborns „Golden Valley Is Now“-Album waren sicherlich eine Inspiration, und natürlich wären Himoya ohne ein knappes halbes Jahrhundert Synthesizer-Pop nicht möglich. Viel mehr Referenzen fallen einem für diese Musik aber tatsächlich nicht ein, und das ist immer ein gutes Zeichen. Eins dafür nämlich, dass hier ausgetretene Pfade verlassen werden. Himoya spielen komplexe und zugleich maximal eingängige Popmusik, die die Grenzen zum Jazz hin ganz unaufgeregt auflöst. Wie im Vorbeigehen, als wären sie gar nicht da.
Berthold Records / LC 27984 / 4250647322102 / Vertrieb: Cargo
VÖ: 2.9. 2022