Sheen Trio – Gozar
Von Teheran nach Deutschland: Zwischen traditionellen iranischen Klängen und modernem, experimentellem Jazz.
Komponistin und Klarinettistin Shabnam Parvaresh und das Debüt-Album ihres Sheen Trios.
GOZAR (deutsch: „Überfahrt“) zeichnet den Weg der Reise nach, die Shabnam Parvaresh von Teheran nach Deutschland geführt hat. Auf dem Debüt-Album ihres Sheen Trios pendelt die Komponistin und Klarinettistin zwischen traditionellen iranischen Klängen und modernem, experimentellem Jazz. Das Trio komplettieren Ula Martyn-Ellis (Gitarre) und Philipp Buck (Schlagzeug).
„In Teheran bin ich in einer Blase aufgewachsen, weil es bei uns deutlich anders zuging als in anderen Familien“, erinnert sich die Komponistin und beschreibt: „Meine Eltern haben sich Alben von Ella Fitzgerald und John Coltrane angehört und wir haben viele westliche Filme gesehen, die uns ein Mann in einem Taxi nach Hause gebracht hat. Er hatte immer einen ganzen Koffer voller VHS-Kassetten dabei, auch Neuheiten, die auf dem Cannes-Festival gezeigt wurden“, so Parvaresh. In den letzten Jahren, in denen sie im Iran gelebt hat, gab es dort schon das Internet. Nutzen ließ es sich aber nur mit erheblichem Aufwand. „Zudem war Musik aus dem Westen verboten. Man konnte nicht einfach in einen Plattenladen gehen und dort Rock-, Pop- oder Metal-Alben kaufen“, erinnert sie sich.
Das Stück 5 Days, 8 Hours and 35 Minutes führt zurück in die 1990er Jahre – als die Zeit der Musik-Downloads begann. „So lange konnte es dauern, bis der Download abgeschlossen war. Immer wieder gab es Stromausfällen und man musste von vorne beginnen. Das hat mich viel Zeit und Nerven gekostet. Aber es war die einzige Möglichkeit, an Musik aus dem Westen heranzukommen“.
Man kann die Frustration, die Parvaresh durchlebte, in diesem lauten, experimentellen Stück förmlich hören. „Zuhause konnte man so sein, wie man wollte. Aber sobald man einen Fuß vor die Tür setzte, musste man eine völlig andere Person sein“, beschreibt die Musikerin ihre Jugendzeit im Iran. Sie lernte zunächst Querflöte, danach (Bass)Klarinette. Nachdem sie den zweiten Platz in einem Musikwettbewerb belegt hatte und ihr musikalisches Talent erkannt wurde, führte sie ihr Weg ins Teheran Symphony Orchestra. „Neben mir spielte noch eine zweite Frau in der Holzbläsersektion, aber in der Gruppe ging es sehr hierarchisch und sexistisch zu. Überhaupt waren das grauenhafte Arbeitsbedingungen. Überall waren Kameras installiert, um zu prüfen, ob wir unsere Hidschabs korrekt trugen oder ob wir mit Männern die Hände schüttelten. Auf die Qualität unserer Musik wurde dagegen weniger Wert gelegt“.
Unterdessen wurden auf den Straßen Teherans Demonstranten erschossen. Davon handelt das Titelstück Gozar – eine sehr politische Komposition. „Im Jahr 2020 schossen die Preise für Benzin derartig in die Höhe, dass es sich niemand mehr leisten konnte. Die Proteste kosteten mehr als 300 unschuldige Menschen ihr Leben, darunter auch Kinder. Inzwischen gehen die Menschen im Iran wieder auf die Straße und das, was wir erleben, kann man als Revolution bezeichnen. Noch nie war ich so stolz, eine iranische Frau zu sein, weil sie es sind, die die Demonstrationen gegen das Mullah-Regime in jeder Hinsicht anführen“. Musikalisch ist Gozar eine Interpretation einer traditionellen Trauermelodie, die unter anderem während des Aschura-Fests gespielt wird. An diesem muslimischen Feiertag gedenken die Schiiten der Schlacht von Kerbela. „Alle Teilnehmer tragen schwarze Kleidung und schlagen sich auf Brust oder Rücken. Aber anstatt Imam Hussein, dem die Rituale eigentlich gewidmet sind, betrauere ich in meinem Stück die unschuldigen Opfer der aktuellen Proteste im Iran“, erklärt Parvaresh.
Mit der traditionellen Musik ihres Heimatlandes verbindet sie eine Hassliebe. Einerseits wurde sie vom Regime für Propagandazwecke missbraucht, andererseits begreift sie sie als Teil ihrer kulturellen Herkunft. Flashback ist die Komposition, die am deutlichsten auf diese Wurzeln Bezug nimmt. Sie ist kunstvoll komponiert mit leichtem Funk-Einschlag und vom traditionellen Radif inspiriert.
Avang (dt. „Pendel“) ist eine musikalische Widmung an ihre in Teheran verstorbene Großmutter. „Sie hatte eine große Standuhr, bei der das Pendel defekt war, so dass sie es regelmäßig – etwa jede Stunde – nachjustieren musste. Es kam auch ständig aus dem Takt, weshalb ich die Komposition in einem ungeraden Fünfermetrum geschrieben habe. Man kann sie auch als Metapher für die iranische Gesellschaft deuten, die in Unordnung geraten ist und Korrekturen braucht“, so die Komponistin.
Während ein Teil ihrer Familie 2007 in die USA auswanderte, blieb Parvaresh selbst im Iran. Stattdessen führte sie ihr Weg 2013 als 29-Jährige nach Deutschland, wo sie nach zwei Jahren ein Studentenvisum erhielt – samt Zusage, an der Hochschule Osnabrück studieren zu können. Terminal C handelt von der Abreise aus dem Iran. Parvareshs melancholisches Spiel auf der Bassklarinette bildet hier einen hörbaren Kontrast zum unruhigen Puls, den Schlagzeug und Gitarre aufbauen. „Als ich am Flughafen stand, wusste ich nicht, was es bedeuten würde, mein bisheriges Leben aufzugeben und ein Neues zu beginnen. Es war ein Sprung ins Ungewisse.“
In Osnabrück angekommen, wollte sie eigentlich ihre klassische Musikausbildung fortsetzen. Doch auf Konzerten und Jamsessions lernte sie immer mehr Jazzmusiker kennen. „Bald dachte ich: wow, das ist es, was ich machen möchte! Nachdem ich einen Jazzklarinetten-Preis gewonnen hatte, wurde ich gefragt, ob ich eine Band hätte. Spätestens da merkte ich, dass ich ernsthaft darüber nachdenken sollte“. So entstand das Sheen Trio, das sie zusammen mit Ula Martyn-Ellis und Philipp Buck gründete, die mit ihrem gefühlvoll-virtuosem Spiel das kraftvolle, expressive Spiel der Bandleaderin perfekt ergänzen. Der Ausbruch der Corona-Pandemie brachte den gerade erwachten Band-Spirit jedoch schon wenig später zum Erliegen. Immerhin: in der Zeit des Lockdowns entstand Rudy the Spider. „Ich kann mich noch erinnern, dass mir rote Flecken an der Fensterscheibe auffielen. Bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass sie von einer Spinne stammten. Sie verspeiste Fruchtfliegen, die sich in ihrem Netz verfangen hatten. Das waren so kleine Dinge, die einem während des Lockdowns plötzlich auffielen. Irgendwann begann ich, mit der Spinne zu reden – wie mit einem Haustier.“
An ihr neues Leben in Deutschland hat sich Parvaresh schnell gewöhnt, wenngleich es auch hier Dinge gibt, die sie bisweilen ärgern. „Zum Beispiel, wenn sich die Veranstalter beim Soundcheck nicht an mich, sondern an unseren Drummer wenden nach dem Motto: sie ist eine Frau, also kann sie ja nicht viel Ahnung haben. Dabei bin ich doch die Bandleaderin, das ist manchmal echt frustrierend, wenn man merkt, dass man nicht ernst genommen wird“, so Parvaresh.
Mit GOZAR beweist sie eindrucksvoll, wie sehr junge Musikerinnen, die unterschiedliche Kulturen und Länder kennengelernt haben, die deutsche Jazz-Szene bereichern können. Indem sie Elemente aus der persischen Musik mit elektronischen Sounds, improvisierter Musik und Jazz verbindet, schafft sie eine neue musikalische Ästhetik auf der Klarinette.
https://www.sheentrio.com/
Berthold Records BR323086 / 4250647323086 / LC 27984 / Vertrieb: Cargo
VÖ: 5.5.2023