Mathei Florea New Grounds – Snap
Die Musik auf diesem Debüt des Esten Mathei Florea fällt auf Anhieb mit überbordender Schönheit auf. Sie entwirft ihre eigenen Erzählungen und Bilder, ist auf ungreifbare Weise greifbar und umschifft doch alle Festlegungen
Beauty is a rare thing, postulierte schon Ornette Coleman, und der musste es ja wissen, war er doch ständig auf Suche nach Vollkommenheit. Wie recht er mit diesem viel zitierten Statement hatte, mag im Alltag kaum ins Gewicht fallen, aber sobald man ein Album wie Mathei Floreas „Snap“ hört, bringt sich dieses Statement unweigerlich in Erinnerung. Für Schönheit gibt es ja keine allgemeingültige Definition, und doch fällt angesichts der Musik des Esten auf Anhieb ihre überbordende Schönheit auf. Sie ist komplex, massiv und doch leicht, dicht und zugleich durchlässig. Sie entwirft ihre eigenen Erzählungen und Bilder, ist auf ungreifbare Weise greifbar und umschifft doch alle Festlegungen. All das zusammen läuft auf eine Ursprünglichkeit und genuine Unverwechselbarkeit hinaus, für welche die Vokabel „Schön“ fast zu banal wirkt, und doch trifft sie mitten in den Kern von Floreas Musik.
Mathei Florea ist Pianist und Bandleader, doch vor allem ist er Komponist, und in dieser Hinsicht ein Naturtalent. Er kommt aus einem Land, für dessen kulturelle Identität Musik eine enorm wichtige Rolle spielt. Der estnische Komponist Arvo Pärt gehört zu den renommiertesten Klassik-Komponisten der Gegenwart, die estnische Dirigentenschule ist weltberühmt, und der Pianist Kristjan Randalu führt mittlerweile eine ganze Riege weit beachteter Jazzmusiker aus dem kleinen baltischen Land an. Mathei Florea hat seine ganz eigene musikalische Sprache gefunden, die zwar auf Erfahrungen estnischer Klassik im Berührungsfeld des Jazz beruht, dabei aber eigene genuine Wege einschlägt. Als Komponist und Arrangeur, Klangmaler und Geschichtenerzähler tritt er mit einem derart leidenschaftlichen Selbstbewusstsein an, dass man kaum glauben mag, wie jung er noch ist.
Floreas Musik löst zahlreiche Emotionsketten aus. Umso überraschender mutet es an, dass er selbst sich beim Komponieren in keiner Weise von Gefühlen leiten lässt. Im Gegenteil, sein kompositorischer Prozess ist von beeindruckender Klarheit geprägt, der sich letztlich adäquat auf die Musik überträgt. „Natürlich kann ich meine Stimmungen nicht ausschalten, wenn ich komponiere oder spiele“, so Florea sehr gradlinig, „aber ob ich einen guten oder schlechten Tag hatte, wirkt sich nicht auf meine Musik aus. Es ist einfach Arbeit. Ich hatte etwa ein Jahr im Voraus einen Studiotermin gebucht, und dann hieß es, mich an Klavier, Midi-Keyboard oder Computer zu setzen und zu arbeiten. Ich habe unfassbare viele Voice Messages auf meinem Telefon, die ich als Inspiration nutze. Und wenn ich das Gefühl habe, ich müsste etwas auf dem Klavier ausprobieren, dann tue ich das. Oder ich setze mich an Pro Tools und versuche, eine musikalische Vision zu gestalten. Das hat nichts mit Gefühlen zu tun. Das ist Arbeit.“ Oft sitzt Florea an mehreren Kompositionen gleichzeitig. Falls er mit einem Stück situativ nicht weiterkommt, bleibt er nicht in den Schleusen seiner Gedanken hängen, sondern kann mit einer anderen Melodie weitermachen.
Dass sich Florea von der estnischen Klassik kommend bewusst für den Lebensmittelpunkt Berlin entschied, hat insbesondere musikalische Gründe. Berlin hat nahezu dreimal so viele Einwohner wie Estland. Für den jungen Klanggestalter wartet die Spree-Metropole mit viel mehr Perspektiven und Möglichkeiten auf als seine Heimat. „Natürlich habe ich eine starke innere Verbindung zu Arvo Pärt“, räumt er ein. „Allein schon sein purer, unverstellter Sound inspiriert mich. Aber als ich nach Berlin kam, war ich von der Vielfalt fasziniert, die hier in der Musikszene herrscht. Die freie Szene von Berlin inspiriert mich zu Experimenten mit der Form, aber ich selbst habe mich für einen etwas traditionelleren Umgang mit schönen Melodien und Klängen entschieden. Das heißt nicht, dass ich keine komplexen Harmonien verwende. Noch mehr fasziniert mich an Berlin die Tatsache, dass all meine Freunde Musiker sind und wirklich zielgerichtet an ihrer Karriere arbeiten. Das musikalische Level ist unglaublich hoch, und selbst wenn mir nicht alles persönlich gefällt, erkenne ich die Arbeit, Kreativität und Energie, die darin steckt. Das inspiriert mich. Wäre ich in Estland geblieben, hätte ich nicht einmal davon geträumt, ein Album wie dieses zu schreiben und aufzunehmen. Von Berlin selbst geht ein unglaublicher Druck aus, dem man sich nicht entziehen kann.“
Ein wichtiger Aspekt von Floreas Musik, der ganz sicher ein Stückweit auf die Ästhetik Arvo Pärts zurückgeht, ist der Klang. Wie eine Melodie klingt, scheint zuweilen genauso wichtig, wenn nicht wichtiger als die jeweilige Melodie selbst. Als Pianist weiß er, wie Klänge entstehen. Unentwegt experimentiert er mit Sounds und ist deshalb mit deren zielgerichteter Gewinnung bestens vertraut. Seine Stücke gehen oft von Soundscapes und Harmonien aus, bevor sich daraus eine Melodie ergibt. Die Melodien fühlen sich zuweilen wie Wanderer an, die voller Neugier durch die Landschaften der Klänge ziehen. Daraus resultiert eine besondere Spannung zwischen Dynamik und Statik, Festgelegtem und Veränderlichem. Der Klang ist der Wegweiser, der das Ohr an all die wunderbarem Orte führt, die Florea in seiner Musik geschaffen hat.
Nun hat Mathei Florea „Snap“ ja nicht im Alleingang umgesetzt, sondern mit seinem Ensemble New Grounds, zu dem neben ihm selbst die Geigerinnen Arghya Sophia Delling und Cristina Cazac, Bratschistin Philine Höhnisch und Cellistin Kornelia Jamborowicz gehören, sowie Trompeter Björn Atle Anfinsen, Bassist Cookie Stephenson und last not least Drummer Johannes Metzger. Für Florea waren die Stimmung im Studio und sein persönliches Verhältnis zu seinen Mitstreitern mindestens ebenso wichtig wie deren Virtuosität und Flexibilität. Es ging ihm um Persönlichkeiten, die den gesamten Prozess von den Proben bis zur finalen Umsetzung unterstützen und sich mit ihren eigenen Ideen eingeben. Speziell den klassischen Streicherinnen bringt Florea großen Respekt entgegen, weil sie sich so weit aus ihrer Komfortzone herauswagten. Toningenieur Marian Hafenstein unterstützte den Komponisten und das Ensemble mit seiner unversiegbaren positiven Energie nach Kräften, um jede Art von kreativer Spannung in ultimative Schönheit zu transformieren.
„Snap“ ist ein Entrée auf allerhöchstem Niveau. Ein Stück Musik, das – nur ein My von der absoluten Vollendung entfernt – unendliche Assoziationsräume für die Hörer öffnet. Aus verschiedenen Traditionen schöpfend, legt Mathei Florea auf „Snap“ den Grundstein für ein neues Vokabular, mit dem er zu unbekannten Horizonten aufbricht und das für heute und alle Zeiten unverkennbar seine Handschrift trägt.
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VÖ: 19.04 2024