Vertigo Trombone Quartet – Openness
Ein echter ‚Abholer‘: Unglaubliche Leichtigkeit, niveauvolle Heiterkeit und bedingungslose Offenheit in alle Richtungen
In anderen Kontexten als Improvisation bezeichnet, läuft es hier auf eine frohgemute Unschärfe hinaus, die sehr viel mit Lebenslust zu tun hat
Kann ein reines Posaunen-Quartett kurzweilig und unterhaltsam sein, ohne sich in den Abgründen der volkstümlichen Musik zu verlieren? Es kann. Mit seinem dritten Album „Openness“ zeigt das Vertigo Trombone Quartet mit Nils Wogram, Jan Schreiner, Andreas Tschopp und Bernhard Bamert, dass Posaune Spaß machen kann und viermal Posaune eben Spaß hoch vier.
Der Albumtitel ist Programm. Dieses Album zeichnet eine unglaubliche Leichtigkeit, niveauvolle Heiterkeit und bedingungslose Offenheit in alle Richtungen aus. Das soll nicht heißen, dass die Musik nicht anspruchsvoll und virtuos wäre. Im Gegenteil. Doch Wogram spricht von einer charmanten Fehlerquelle, die man zulassen können muss. Er nennt es auch einen gesunden Perfektionismus. Nun ist diese Haltung im neueren Jazz nur sehr selten zu finden, und genau genommen ist „Openness“ auch gar keine Jazzplatte, obwohl alle vier Beteiligten mit Jazz sozialisiert sind und assoziiert werden. Was in anderen Kontexten als Improvisation bezeichnet wird, läuft hier auf eine frohgemute Unschärfe hinaus, die sehr viel mit Lebenslust zu tun hat. Denn wer möchte schon an einem warmen Frühlingstag präzise planen, wohin sein Weg ihn führt?
Schon auf dem letzten Album seiner Langzeitformation Root 70 legte Nils Wogram eine Entspanntheit an den Tag, die weder für den zeitgenössischen Jazz noch für die Posaune typisch ist. Und wie die Synchronität der Ereignisse oft so spielt, sind Tschopp, Bamert und Schreiner genau auf demselben Level der Gelassenheit angekommen. Da treffen sich vier Freunde, denen nie der Gesprächsstoff ausgeht, in einer angenehmen Situation und fangen einfach an, sich darüber auszutauschen, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Niemand ist der Wortführer, keiner will Recht behalten oder sich in den Vordergrund spielen. Und doch kommt jeder mit seiner Haltung, seinen Ideen und seiner Dringlichkeit zum Zug (um im Bild der Posaune zu bleiben).
Es geht zu keinem Zeitpunkt darum, was man mit vier Posaunen machen kann. Das könnten ebenso gut vier Gitarren, Akkordeons oder Maultrommeln sein. Es geht einfach um die Teilhabe an einem ehrlichen Dialog. Im Mittelpunkt stehen gute Geschichten, die nur deshalb auf vier Posaunen erzählt werden, weil alle vier Protagonisten nun mal Posaunisten sind. „Wir haben als Band seit unserem ersten Album 2014 einen Prozess durchgemacht“, bestätigt Nils Wogram. „Anfangs sind wir mit der Message angetreten, dass wir die Schwierigkeiten überwinden, die das Instrument mit sich bringt. Auf dem dritten Album können wir entspannt zurückblicken und loslassen. Natürlich haben wir alle sehr unterschiedliche Herangehensweisen. Wir haben es diesmal so gemacht, dass jedes Stück von dem jeweiligen Komponisten gestaltet wird. Der hat dann auch das Vetorecht, wenn ihm etwas nicht gefällt. Aber trotz dieser Verschiedenheit ist es uns nicht schwergefallen, von Anfang an eine gemeinsame Linie zu finden.“
Natürlich stecken eine Menge Arbeit und Herzblut in einem solchen Album, zumal es so viele verschiedene Ansätze vereint. Aber wenn die Songs einmal durch die Schleusen der Mühsal gegangen sind, hört man ihnen den Aufwand nicht mehr an. Die Mühelosigkeit dieser Musik ist vom ersten Ton an ansteckend. Der Fokus verschiebt sich von der Instrumentaltechnik und den spielerischen Möglichkeiten auf dem Instrument ganz klar in Richtung reine Musik. Hier wird im ursprünglichsten Sinn des Wortes gespielt, Ausgang offen. Wie lautete noch gleich der Albumtitel? Alle vier Vertigo-Trombonisten sind hörbar gereift, aber gleichzeitig viel verspielter geworden. „Irgendwann wird man wieder zu jener Aufgeregtheit jener Tage zurückgeführt, als man die Posaune zum allerersten Mal in die Hand nahm“, beschriebt Andreas Tschopp dieses bedingungslose Spielgefühl. „Plötzlich kommen wieder Skills aus einer Zeit zum Vorschein, in der ich das Instrument technisch noch gar nicht beherrscht habe, die mir aber heute wieder richtig gut gefallen. Dadurch wird das Spektrum plötzlich wieder viel reicher.“
Eben dieses Spektrum kommt ohne jegliche Begrifflichkeit aus. Ja, vier Posaunen suggerieren zu allererst JAZZ, vielleicht auch Neue Musik, doch mit diesem Programm kann das Quartett auch auf jedem Roots Music- oder Jam Rock-Festival Stürme der Begeisterung entfachen. Ballast, den die vier Musiker seit Jahrzehnten mit sich rumschleppen, wird unsentimental abgeworfen. Bernhard Bamert betont sogar: „Eine Zeitlang habe ich überhaupt keinen Jazz gehört, sondern nur Klassik, und Volksmusik ist für mich tatsächlich eine wichtige Bezugsgröße.“ Menschen sind nicht kategorisierbar, und der konsequent inklusive Anspruch des Albumtitels spiegelt sich in der Musik auf verzaubernd zauberhafte Weise wider. Eine entscheidende für die Stimmung auf dem Album spielte die Aufnahmesituation. „Wir sind alle zusammen nach Bremen gefahren und haben in diesem Studio wie in einer Wohnung gewohnt und zusammen gekocht“, erinnert sich Andreas Tschopp. „Für mich war dieser ganze Prozess wie eine Klassenfahrt. Das war eine sehr niederschwellige Art aufzunehmen. Wir hatten nicht das Gefühl, super eingespielt ins Studio zu gehen und Perfektion abliefern zu müssen, sondern wir sind zusammen in dem Haus, essen oben und gehen dann runter, machen Musik, und jemand nimmt das auf. Das war eine Spontaneität wie bei ganz ursprünglicher musikantischer Volksmusik. Das ganze Album ist eine Momentaufnahme.“
Genau genommen ist „Openness“ ein Live-Album. Die in der Musik vermittelte Stimmung erinnert daran, dass „live“ ja nichts anderes als eine Übersetzung für „lebendig“ ist. Auf „Openness“ kommt eine Vielzahl von Melodien, Timbres, Stimmungen, künstlerischen Haltungen, individuellen Vorlieben und Konstellationen innerhalb der Gruppe zum Tragen. Nichts ist definiert, alles ist offen. Es gelingt den vier Posaunisten hervorragend, nicht nur sich von allen Erwartungshaltungen zu befreien, sondern auch jede Erwartung des Hörers zu pulverisieren.
Wayne Shorter habe mal gesagt, so Tschopp, das Gegenteil von Furcht sei nicht Furchtlosigkeit, sondern Offenheit. Auf diesem Album findet nicht nur jedes Mitglied mit seinen individuellen Ausprägungen einen adäquaten Platz, sondern auch jeder Hörer kann sich in den Songs einrichten, egal wo seine musikalische Sozialisation verortet ist. In dieser Hinsicht ist „Openness“ mehr als nur ein Stück Musik. „Openness“ ist ein echter Abholer. Eine Utopie genau zur rechten Zeit.
nWog Records (nwog-records.com) Vertigo Trombone Quartet | Nils Wogram
NWOG Records/ nwog 059 / LC 77779 / 4015698932850 / Vertrieb: INDIGO
VÖ: 13.09.2024
Live
2024
16.09. Köln, Loft
17.09. Amsterdam, Splendor
18.09. Hamburg, FatJazz – Urban Exchange
19.09. Berlin B- Flat
03.10. Zürich, Kulturmarkt
04.10. Reutlingen, Pappelgarten
05.10. Stuttgart, Kulturkabinett
08.11. München, Unterfahrt
09.11. Prien, Jazz am Roseneck