Ingen Navn Trio – ALTARA

Junger Jazz: Nahezu alles ist möglich in dieser Musik, aber nichts ist beliebig.

Eine Lust an musikalischer Freiheit mit Texten, die Intimität und Versponnenheit ausstrahlen.

Will man die Musik, die das Trio Ingen Navn mit seinem neuen Album, dem zweiten, in die Welt gestellt hat, beschreiben, stellt sich zuerst einmal nur eine Frage: Wo soll man anfangen bei dieser Fülle? Vielleicht mit ganz einfachen, unmittelbaren Eindrücken. Wir hören sirrende Elektronik, ein konzentriert flanierendes Saxofon, Field Recordings von Vogelgezwitscher. Die Vögel hat Saxofonistin und Sängerin Inga Rothammel selbst aufgenommen.

Und wie geht es von hier aus weiter? Mit einer Reise. Das Album entstand nach einem Trip durch Peru und Argentinien, der Einkehr und Sammlung ermöglichte. „Ich saß auf einem Berg im Dschungel, nur mit meinem Saxofon, komplett abgeschnitten vom Internet“, erzählt Inga Rothammel. „Keine Autos, keine Umgebungsgeräusche. Ich sprach auch kein Spanisch und verstand daher niemanden.”

Wenn man weiß, dass der Keim von “ALTARA” hier liegt – in Naturerfahrungen, vorübergehender Einsamkeit und in der Abwesenheit von Sprache –, dann erschließt sich einem diese unglaublich vielgestaltige Musik leichter. „Hab gerastet / bin gewachsen“, singt Inga Rothammel in „Kormorane“ (“ALTARA” ist das erste Ingen-Navn-Album, auf dem Text integriert ist). Und im nächsten Stück, „Eenden“, dann: „Ganz leicht, ganz weich / schwebe ich dahin auf den Wolkenliedern“.

Natur und Technik: „Eenden“ ist ein verträumt-entrückter Indie-Popsong, in den Schlagzeuger Hendrik Eichler allerdings zahllose kleine Breakcore-Miniaturen und Glitches eingeflochten hat. Ingen Navn sind ausgerüstet mit allerlei Gerätschaften, und die Freude am Experimentieren, am Geräusch und an den Intensitäten, die sich mit allem, was Klang erzeugt, herstellen lassen, ist „ALTARA“ in jedem Moment anzumerken. In der Konsequenz führt sie dazu, dass dieses Trio offensichtlich konstitutionell unfähig ist, auch nur eine langweilige Sequenz einzuspielen.

Und sie führt zu einer Art homogener Vielfalt, wenn man das so sagen kann. Alle bringen Unterschiedliches mit: Inga Rothammel Jazz und Impro (u.v.a.m.), Gitarrist Rocco Romano sagt, er käme vom Thrash Metal, aber auch aus der zeitgenössischen Minimalmusik (beides ist in seinem Spiel zu hören), und Schlagzeuger Hendrik Eichler ist seit einiger Zeit auch als DJ unterwegs.

Das Spektrum auf „ALTARA“ reicht von elegischen Improvisationen („Jugar“) über metal-lastigen Jazz („Traumnebel“) bis hin zu Electronic-Dance-Music-lastigen Tracks (allen voran die maximal mitreißenden Stücke „Goldgrube“ und „Welle“).

Trotzdem kann man dieses Album in einem Rutsch durchhören, es klingt alles wie aus einem Guss. Ingen Navn nehmen sich die Freiheit, die sie brauchen, um Stücke zu komponieren oder spontan zu entwickeln, mit denen Zuhörerinnen und Zuhörer sich befreit fühlen können – befreit von musikalischen Konventionen, von festen Vorstellungen darüber, wie man bestimmte Dinge machen sollte, von erstarrten Ideen generell. Da überträgt sich etwas. Nahezu alles ist möglich in dieser Musik, aber nichts ist beliebig.

Diese musikalische Freiheit artikuliert sich auch in den Texten, die Intimität und Versponnenheit ausstrahlen und sich wie ein weiteres Instrument in das lebendig-schillernde Gesamtbild einfügen. Sie artikuliert sich aber auch in einer unverhohlenen Lust am Noise. „Goldgrube“ beginnt mit einem Spoken-Word-Gedicht in getragener Geschwindigkeit: „Ein harter Klumpen feuchter Erde / wird zur Goldgrube unserer Träume / die wir nicht kennen und doch fürchten / nicht wissen, noch sehen / nicht wahrhaben / aber wünschen tief drin.“ Dann nimmt zuerst die Stimme, dann die Musik an Fahrt auf. Saxofon und Gitarre kreiseln umeinander, und das Stück mündet in einem treibenden Psytrance-Beat, der mit einem Mal hinter Noise-Partikeln verschwindet und abrupt von einer 20-sekündigen überraschenden Schlussvolte abgelöst wird. Und das alles komplett unverkopft. „Wir wollen, dass die Leute tanzen“, sagt Hendrik Eichler.

In den drei Minuten, die „Goldgrube“ dauert, befeuert das Trio Hörerinnen und Hörer mit mehr Ideen als andere Bands auf einem ganzen Album. Und das gilt, wenn man einmal nachrechnet, für alle zehn Stücke auf „ALTARA“. Ingen Navn spielen eine geradezu radikal ideenreiche, verspielte und naturhaft-organisch wirkende Musik, die trotz überquellender Melodien, komplexer Rhythmen und Noise-Passagen in sich ruht.

Ingen Navn Trio

Berthold Rec / CD BR325073  LP BR325080 / LC 27984 / 4250647325073 / Vertrieb: Cargo

VÖ: 27.06.2025

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