Billy Hart & The WDR Big Band - The Broader Picture
Billy Hart & The WDR Big Band - The Broader Picture
ENJA Yellowbird / 767522974522 / Vertrieb: Soulfood
Veröffentlichung: 28.10.2016
Big Band macht Spaß! Wie bitte, was ist los? Ja, Big Band macht Spaß! Das gilt nicht nur für Freunde kompakter Bläsersätze und satter Swing-Arrangements. Count Basie war es, der 1958 mit seiner Big Band auf dem Newport Jazz Festival die Dramaturgie des Heavy Metal vorwegnahm, sein Trompeter Roy Eldridge war der Vorläufer von AC/DC-Gitarrist Angus Young. Charles Mingus hat mit seinen Großformationen die Wucht des HipHop antizipiert. Auch heute noch gibt es Big Bands, die aus der schwungvollen Gemütlichkeit des Traditionellen ausbrechen und die ebenso pralle wie präzise Unschärfe des Lebens mit vollen Segeln einfangen. Eine von ihnen ist ausgerechnet die WDR Big Band.
Am Anfang war eine Idee. Der schweizerische Posaunist Christophe Schweizer und der amerikanische Drummer Billy Hart kennen sich seit mehr als 20 Jahren. Aus der gemeinsamen Arbeit gingen zwei CDs und mehrere Europatourneen hervor. Doch den Posaunisten gelüstete nicht nur nach mehr, sondern auch nach Größerem. So trug er sich mit dem Gedanken, die Musik des Drummers auf eine große Formation zu übertragen. Dabei ging es in allererster Linie dem Zusammenprall von Wucht auf Wucht. Billy Hart ist für sich selbst ein Orchester, ein Berg der perkussiven Emotionen, für den Kontrolle nur insoweit wichtig ist, als er sie aus der Hand geben kann. Seit 50 Jahren ein Wirbelwind der Jazz-Geschichte, war Hart an mehr als 600 Aufnahmen beteiligt. Unvergessen sind die Alben, die er Anfang der 1970er Jahre an der Seite von Herbie Hancock, Bennie Maupin und Miles Davis einspielte. Hart war niemals nur der Lieferant für den Groove, er war stets selbst der Puls. Schweizer charakterisiert ihn als Schwamm, der alles aufsaugt. Musik und Persönlichkeit waren und sind bei Hart immer eine untrennbare Einheit. Musikalische Logik zählt für ihn nur, solange sie der Logik des Lebens entspricht. Und die ist bekanntlich unberechenbar.
So ist es dem Billy Hart wie kaum einem anderen gegeben, ein Orchester vom Format der WDR Big Band nicht nur mitzureißen, sondern buchstäblich aus den Angeln zu heben. Das verblüfft umso mehr, als der Drummer sonst hauptsächlich in kleineren Formationen zu Hause ist. Doch bislang gelingt es ihm ungeachtet der Mannstärke, mit kalibrierter Kraft selbst ein Trio zur Big Band anschwellen zu lassen.
Die Kompositionen auf „The Broader Picture“ stammen ausschließlich aus der Feder von Hart und sind von Christophe Schweizer arrangiert worden. Doch der herkömmliche Begriff von Arrangement führt hier in die Irre, denn den Flow von Billy Hart kann man nicht kalkulieren, und arrangieren schon gar nicht. Hier bricht sich eine Urgewalt Bahn, die mit einem aktiven Vulkan kurz vor dem Ausbruch vergleichbar ist. Die Silhouette des Bergmassivs ist sichtbar und vertraut, doch die ihm innewohnende Kraft lässt sich nur erahnen. Die einzelnen Familienmitgliedern gewidmeten Kompositionen stammen aus ganz unterschiedlichen Schaffensperioden des Drummers und ordnen sich hier zu einer neuen Suite, die man sich anders gar nicht mehr vorstellen mag.
Komponist, Arrangeur und Klangkörper verschmelzen zu einem einzigen Storyteller, dessen Plot eine Fabel über die Lust am Jazz in der scheuklappenfreien Überwindung alles Trennenden ist. Europa und Amerika, die 1970er Jahre und die Gegenwart, die individuelle Wucht des Einzelnen und der kraftvolle Response eines Orchesters, die Eruption in der massiven Ruhe des Ewigen, das Laute als paradoxer Gegenentwurf zur Stille. Diese Musik ist so ganzheitlich, weil sie kaum etwas auslässt, was das Leben ausmacht. Und Billy Hart – immerhin in diesem Jahr 75 geworden – weiß eine Menge vom Leben.