Dani & Debora Gurgel Quarteto - Garra
Dani & Debora Gurgel Quarteto – Garra
(Berthold Rec. / Vertrieb: JA KLA / Helikon Harmonia Mundi / Veröffentlichung: 16. Oktober 2015
Wörtlich übersetzt bedeutet "Garra" (ausgesprochen "Gaha") Klaue oder Kralle.
Es steht aber auch für Durchsetzungsfähigkeit und Hartnäckigkeit. Eben dafür, in der Lage zu sein, auch in hektischen Zeiten die Dinge zu durchzuziehen, die anstehen. So wie die Mitglieder von DDG4, dem Dani & Debora Gurgel Quarteto aus Sao Paolo in Brasilien. Ihr neues Album „Garra“ entstand zwischen Plattenaufnahmen, Konzert-Tourneen, Social Media-Aktivitäten und Videoproduktionen. Ein überaus passender Titel also.
"Es ist das heiterste Album, das wir bisher in dieser Besetzung aufgenommen haben. Alle Stücke strahlen eine gewisse Grundfröhlichkeit aus", sagt Sängerin Dani Gurgel und erklärt die Philosophie ihres Quartetts. "Alle Songs werden live im Studio eingespielt. Das dauert meistens nur zwei Tage, denn wir verzichten auf nachträgliche Korrekturen jeglicher Art. Wir proben allerdings vorher sehr ausgiebig, so dass im Studio alles sehr gut fließt."
Frische und Leichtigkeit - das sind die Begriffe, die Vielen in den Sinn kommen, wenn sie die Musik von DDG4 hören. Sie wirkt entspannend und gleichzeitig belebend. Die rhythmischen Muster aus Brasilien sind unverkennbar, gepaart mit starken Jazz-Einflüssen und Anleihen aus der Welt-und Popmusik. Dani singt, ihre Mutter Debora spielt Klavier, Danis Ehemann Thiago Rabello Schlagzeug und Sidiel Vieira - ein enger Freund - Kontrabass.
"Wenn wir auf Tour sind und Freizeit haben fühlen wir uns wie eine Familie", beschreibt Dani den engen Zusammenhalt innerhalb ihrer Band. Gelegentlich ist ihr Tross noch größer. Wenn ihr Vater, ihre Schwester und Thiagos Eltern mitreisen, wird daraus ein echter Familien-Trip. "Schwiegermütter haben in vielen Partnerschaften ja einen schweren Stand, aber Thiago betont immer, dass er sich
keine bessere Schwiegermutter wünschen könnte. Aber während der Proben, der Auftritte und den Plattenaufnahmen sind wir absolute Profis. Wir haben schnell herausgefunden, dass es anders auch nicht funktionieren würde".
In der jetzigen Form funktioniert es jedenfalls prächtig. Debora Gurgel beweist ihre Qualitäten am Klavier mit spielerischer Leichtigkeit. Thiago Rabello, der auch als Produzent aktiv ist, liefert raffinierte, treibende Rhythmen auf seinem Schlagzeug, während Sidiel Vieira seinen Kontrabass mit viel Gefühl und Humor geradezu liebkost. Und wenn Dani Gurgel dann noch dazu singt, kommt es dem Betrachter vor, als wenn sie die vier Musiker gerade köstlich in ihrem Wohnzimmer amüsieren und dabei ganz nebenbei Musik in höchster Vollendung entsteht. Dazu trägt Dani mit ihrer enorm modulationsfähigen Stimme erheblich bei. Mal singt sie leise und nachdenklich, fast kokett, um im nächsten Moment ansatzlos in einen Scatgesang mit höchster Präzision zu wechseln.
"Am Anfang habe ich sehr lange Saxofon gespielt. Alle Sounds, die ich damit erzeugte, wollte ich auch mit meiner Stimme machen können. Also fing ich an, zur Melodie zu scatten. Das war für mich ein ganz natürlicher Prozess, das zu singen, was ich vorher schon auf dem Saxofon gespielt hatte", erläutert Gurgel. "Ich scatte nicht nur, um neue Melodien zu finden, sondern auch, um der Musik neue Klangfarben hinzu zu fügen". Wenn scattet, erzeugt Dani Gurgel Sounds, die zu den
jeweiligen Songs passen. "Normalerweise ist das etwas, was portugiesisch klingt. „Danceio“ allerdings - das zweite Stück auf dem Album - ist von afrikanischen Rhythmen inspiriert. Das ist ein anderer Scat-Stil mit Klick-Lauten, die dem Song einen völlig anderen Charakter verleihen."
Die meisten Stücke sind Gemeinschaftsproduktionen von Dani und ihrer Mutter Debora. Oft sind es die vertonten Geschichten von Menschen, denen sie auf Tour begegnen. Über deren Leben, ihr Zuhause, ihre Gebete oder andere Geschichten des Alltags. "Fuga“ bedeutet, auf der Flucht zu sein. Es handelt von einem Mann, der aus einer Stadt flieht, weil er ein Geheimnis hütet. Er hatte keine andere Wahl – wäre er geblieben, hätte er reden müssen und das Leben aller Mitbewohner gefährdet. Auf seiner Flucht geht ihm langsam die Puste aus, weshalb die Textzeilen immer kürzer werden. Dann entscheidet er sich, zurück zu kehren und Farbe zu bekennen. Doch genau in diesem Moment setzt mein Scatgesang ein, so dass niemand hinter das Geheimnis kommt."
„Suspensa“ - was "verschoben" bedeutet – bezieht sich dagegen auf einen Moment, der in der Zeit eingefroren zu sein scheint. "Der ersehnte Moment, der sich unerträglich in die Länge zieht. Zum Beispiel, wenn man auf eine wichtige Nachricht wartet - die gut oder schlecht sein kann. Über einen geliebten Menschen im Krankenhaus zum Beispiel. Oder die Nachricht, ob man es auf die Hochschule geschafft hat oder nicht".
Auf Konzerten ziehen Dani und ihre Band die Zuschauer völlig in ihren Bann und fühlen sich ihnen gegenüber besonders verpflichtet. "Für mich sind das nicht einfach Menschen, die uns zuschauen und zuhören, sondern ich sehe sie als neue Freunde, die ich zuhause in mein Wohnzimmer einlade. Sie sollen Spaß haben, sich wohlfühlen. Obwohl es während unserer Konzerte auch leisere, ernsthafte Momente gibt, möchte ich, dass sie am Ende mit dem Gefühl nach Hause gehen, ebenfalls neue Freunde gefunden zu haben." Da die Zuschauer auf DDG4-Konzerten normalerweise kein portugiesisch sprechen, erklärt Dani ihnen die Texte, um einen Eindruck zu vermitteln, worum es in den Stücken geht.
Vor allem in Japan - wo auch der abkürzende Bandname entstanden ist - konnte das Ensemble schon Erfolge feiern. Zum Einen lieben viele Japaner brasilianische Musik, zum Anderen hat Dani Gurgel dort schon Alben mit Stücken moderner brasilianischer Komponisten eingespielt. Und auch mit ihren eigenen Stücken sind DDG4 regelmäßig in Japan zu Gast. Das Interview mit einem Radiosender, bei dem plötzlich die Wände zu wackeln begannen, ist Gurgel und ihren Bandmitgliedern in besonderer Erinnerung geblieben.
"In Brasilien gibt es kaum Natur-Katastrophen. Weder Erdbeben, noch Vulkane, noch Tornados, dafür umso mehr menschliche Katastrophen wie Armut und korrupte Politiker. In Japan dagegen haben wir auf zwei Reisen zwei Erdbeben erlebt." Beim ersten waren Debora und sie gerade zu Gast bei einem Radiosender - in einem fensterlosen Büro im zwölften Stock. "Das war ganz anders, als man es aus Filmen kennt. Keine Bücher, die aus den Regalen fallen, sondern es passierte gar nichts.
Erst dachte ich, mir sei schwindlig, weil ich nicht richtig gefrühstückt hatte, dann überlegte ich: ist das ein starkes oder leichtes Beben? Soll ich wegrennen oder an Ort und Stelle bleiben? Dann aber war der Song schon vorbei und unsere Gastgeber sind wieder auf Sendung gegangen - so, als ob nichts gewesen wäre.“
Dass das Beben eine Beben eine Stärke von 6,9 auf der Richter-Skala hatte, also ziemlich stark war, erfuhren sie erst hinterher. Ein Erlebnis, das Dani Gurgel zunächst in einem Song verarbeiten wollte. "Das hätte mir Spaß gemacht, aber schreckte mich dann doch ab, weil ich fürchtete, die Japaner würden annehmen, wir seien nicht gerne bei ihnen zu Gast gewesen. Was aber gar nicht stimmt, im Gegenteil: wir fanden es großartig."
Und so kommt "Garra", das neue DDG4-Album, ohne Anspielungen auf Erdbeben aus. Auf seine Weise (welt)bewegend ist es trotzdem, wenn es im Oktober in Europa veröffentlicht wird, nachdem es zuvor - im September - schon in Japan auf den Markt gekommen sein wird.