Lucas Heidepriem - Silence in Motion (mit Johannes Schaedlich, Peter Erskine)

Lucas Heidepriem - Silence In Motion

In&Out Records  IOR CD77125-2  EAN 798747712521  Vertrieb: In-akustik

Veröffentlichung: 13. November 2015

 

Bergläufer sind anders. Extremer als die „normalen“ Läufer, ausdauernder, zielorientierter, verbissener, hartnäckiger, konsequenter. Aufgeben kommt für sie nicht in Frage. Immer weiter den Berg hinauf, über steilste Steigungen, Feldwege, grüne Wiesen und Geröll. Unten am Start scheint die Sonne bei 20 Grad, während es oben im Ziel schneit und die Temperaturen unter den Gefrierpunkt fallen. Der Puls befindet sich konsequent am Anschlag, der Blutdruck droht die Schädeldecke zu zerreißen.

Lucas Heidepriem hat 2015 den Ultra-Zermatt-Marathon absolviert. 48 Kilometer, Höhenunterschied 2800 Meter: Klingt nicht unbedingt nach Spaß, aber Heidepriem braucht das. „Durch das viele Üben ist Laufen für mich zum perfekten Ausgleich geworden. Außerdem schont das Bergauflaufen meim Knie.“ Eine Vernunft- und Bauchentscheidung gleichermaßen. Die Parallelen zur Musik sind offenkundig. Vielleicht erinnern sich manche noch daran, dass Lucas, Sohn des bekannten Freiburger Pianisten Waldi Heidepriem, vor nicht allzu langer Zeit zu den besten Posaunisten Deutschlands zählte. In den 1990er Jahren war er der klassische Hoffnungsträger, dem selbst die Fußstapfen eines Albert Mangelsdorff nicht zu groß schienen. Bis eine schlimme Lippenerkrankung seiner ersten Karriere ein jähes Ende setzte.

Doch Lucas ist ein Kämpfer. Und er hat den langen Atem. Die Gene siegten rasch über die anfängliche Paralyse. Im biblischen Lernalter von 34 Jahren wechselte er die Disziplin, setzte sich ans Klavier, vergrub sich, wühlte mit den Händen pausenlos durch die schwarzweißen Tasten, wiederholte Phrasen, Läufe und Harmonien bis zum Erbrechen. Ein ständiges Anlauf nehmen, immer wieder gegen Widerstände anrennen. „Ich muss dranbleiben, üben, Vollgas geben, jeden Tag. Erst dann bin ich mit mir im Reinen.“ Denn die Posaunen-Vergangenheit lässt sich nicht so ohne weiteres von der Festplatte löschen. „Manchmal denke ich beim Improvisieren noch wie ein Posaunist, hin und wieder träume ich sogar davon, Posaune zu spielen.“

Gerade deshalb erscheint es umso erstaunlicher, dass Lucas Heidepriem 2008 mit seinem Pianotrio-Debüt „Next Return“ (IOR CD 77094-2) bei Publikum wie Kritik gleichermaßen enorme Anerkennung erfuhr. Alle spürten, dass hier nicht einer reüssierte, der aufgrund früherer Verdienste halt nochmal ran durfte. Heidepriem erarbeitete sich vielmehr im besten Wortsinn einen eigenen Persönlichkeitsstil, der extrem in die Tiefe geht, weite Felder aufreißt, Lücken schließt, atmet und spontan auf jede Regung seiner Partner reagiert. Aber wer ihn kennt, wusste, dass das nur der Startschuss für einen neuen, waghalsigen Berglauf sein konnte. Seit „Next Return“ ging er zwei Mal ins Studio, um seinen aktuellen Leistungsstand zu dokumentieren, nahm auf, verwarf aber das Endergebnis, „weil ich mit einigen Sachen, aber nicht mit allen zufrieden war.“ Ein selbstkritischer Geist, für den Qualität stets das Maß aller Dinge darstellt.

Insofern muss das Erscheinen von „Silence in Motion“, ganze sieben Jahre nach dem überraschenden Einstieg in die neue Musik-Laufbahn, nun als besonderer Moment gefeiert werden. Lucas Heidepriem hat Veränderungen in seiner musikalischen Zweckgemeinschaft vorgenommen. Neben dem vertrauten Bassisten Johannes Schaedlich konnte er sich die Dienste des legendären amerikanischen Drummers Peter Erskine sichern, der den Themen des neuen Albums einen subtil nach vorne treibenden Groove verleiht. Wie ein Tempomacher, der dem Läufer dabei hilft, eine neue Bestmarke zu erreichen. Im Juni 2015 zogen sich die drei für das große Rennen durch acht Heidepriem-Originals und einen Standard („Darn That Dream“) nach Mannheim ins Studio von Winnie Leyh zurück. Was dabei herauskam, ist pianistischer Impressionismus reinsten Wassers. Ein Hauch von John Taylor und Keith Jarrett, aber definitiv keine Kopie. Denn jeder, der sich das Tastendrücken auf dem zweiten Bildungsweg draufschafft, wählt eine andere Route als die der akademisierten Klavierspieler – man denke nur an den ehemaligen Altsaxofonisten Marc Copland.

Heidepriem, Schaedlich und Erskine funktionieren perfekt, finden ein Miteinander und eine Mitte zwischen kammermusikalischer Subtilität und improvisatorischer Herausforderung. Ihre Strukturen verästeln sich auf faszinierende Weise, sie reagieren, ohne sich zu produzieren. Allgegenwärtige nonverbale Kommunikation. Unmittelbar, kompromisslos und gerade deshalb angreifbar, verletzlich. Wie ein Läufer, der die Strecke ab einem gewissen Punkt nur noch in Trance zurücklegt.

„Ich habe mich verändert und damit auch meine Stücke“, reflektiert der Pianist. Wohl wahr. Er ist reifer geworden, weiß genau was er tun muss auf dem steinigen, steilen Weg zum Gipfel. Sehen kann er ihn zumindest schon.