Nils Wogram Root 70 - Wise Men Can Be Wrong

Nils Wogram Root 70 - Wise Men Can Be Wrong

 Nwog Records 014 / Ean 7640103891728 / Vertrieb EDEL kultur   

 

Video: Too Marvelous for Words 

Veröffentlichung: 11. Dezember 2015

Wie heißt es so schön in dem Film-Klassiker “The Big Lebowski“? Auch starke Männer weinen. Und wie starke Männer weinen können, so können sich weise Männer irren. Nils Wogram und seine Langzeitformation Root 70 liegen indes einmal mehr hundert Prozent richtig.

Jazz – wer wollte daran zweifeln – ist die beständigste Musikform der letzten 120 Jahre, und doch ist er einer permanenten Fluktuation seines Personals unterworfen. Kaum eine Band, die länger als eine Platte und Tour zusammenbleibt. Festgefügte Gruppen, die über Jahrzehnte in unveränderter Besetzung arbeiten, sind die große Ausnahme. Eine dieser Bands ist Root 70 mit Nils Wogram, Posaune, Hayden Chisholm, Saxofon, Matt Penman, Bass und Jochen Rückert, Schlagzeug. Nach 15 Jahren im aktiven Dienst muss man die Band nicht mehr vorstellen, sie ist eine Fixgröße im deutschen Jazz und weit darüber hinaus.

In solch einer Konstellation ist eine spezielle Frage früher oder später unausweichlich: Woher kommen wir eigentlich? Auf ihrer Suche nach Antwort sind Root 70 bei den Standards angekommen. Allen Unkenrufen, wer das fünf Millionste Standard-Album braucht, wirft Wogram ein fröhliches „Na und?“ zurück. Mit einem fliegenden Teppich der Imagination gleiten die vier Musiker durch die uralten Songs von Billy Strayhorn, Cole Porter, Henry Mancini oder Jerome Kern, als wären sie ihnen selbst eine halbe Stunde zuvor eingefallen. Und dann? Stopfen sie diese Klassiker in den Sophistication-Kessel und danach in die Arrangement-Schleuder? Nein! Der Humor und die Vertanztheit der Stücke ist einzigartig. Der Unterschied zu herkömmlichen Standard-Alben ist die Haltung, mit der sie diese Klassiker servieren. Und da schließt sich der Bogen zum Big Lebowski. Die komplexesten Sachverhalte werden hier lachhaft einfach erklärt.

„Die Realität vieler Jazzmusiker sieht ja so aus, dass sie diese Standards heimlich pflegen, dies aber nie in der Öffentlichkeit tun würden“, gesteht Wogram. „Und wenn man in jüngerer Zeit doch auf dieses Material zurückgegriffen hat, dann in möglichst komplexen Arrangements.“ Richtig beobachtet. Aber mehr als das, Wogram setzt einen Kontrapunkt, indem er fragt, was diese Standards jenseits aller persönlichen Interpretationen heute noch ausmacht. Das Besondere ist, dass es sie einfach gibt. Root 70 haben bei Sessions oder Soundchecks nicht selten auf Standards zurückgegriffen. Dies wollte Wogram endlich mal dokumentieren „Es hätte natürlich nahegelegen, dass wir diese Standards so weit verbiegen, bis ‚unser Ding’ daraus wird, aber gerade das wollte ich diesmal nicht. Mir ging es vielmehr darum, simple Songs simpel aufzunehmen.“

Er will diesen alten Popsongs nichts hinzufügen, sie nicht besser machen, als sie sind. Der Abstraktionsgrad dieser Stücke ist ohnehin längst ausgereizt. Im Weglassen von allem Schnickschnack gelingt es Root 70, zu sich selbst zu finden. Denn wer kennt schon noch die Originale? In unseren Ohren haben sich Versionen von Miles, Monk, Bird und Trane festgesetzt, aber selbst die waren ja schon Übersetzungen. Wogram und Co suchen nicht nach dem nächstgrößeren Hindernis, das sie auf dem Weg zum Standard überwinden dürfen. Sie spielen die Songs, wie sie ihnen unter die Finger kommen. Das Motto lautet: Raus damit.

„Das Risiko besteht darin, das man sich an nichts festhalten können“, so Wogram. „Nach 15 Jahren Zusammenspiel in der Band finde ich, dass man mal wagen kann, so simples Material zu spielen. In Eigenkompositionen steckt ja per se ziemlich viel von einem selbst. Bei Standards ist es viel schwieriger, etwas von sich selbst zu finden, weil man diese unglaublichen Vorbilder hat. Mit dem Alter kann man etwas selbstbewusster mit seinen eigenen Sounds umgehen. Man muss nichts mehr neu erfinden und kann trotzdem etwas Originäres schaffen.“

Die Heiterkeit, mit der Wogram, Chisholm, Penman und Rückert diese Songs spielen, kommt ohne jeden postmodernen Zynismus aus. Sie missbrauchen die Songs nicht, um sich darüber lustig zu machen. Es gab keinerlei Diskussionen, wie die Stücke gespielt werden sollten. „Wir haben sie einfach so runtergespielt.“ Mit diesem Selbstverständnis kann Root 70 auch auf den obligatorischen Radiohead oder Hendrix-Song verzichten, der einen aktuellen Bezug – was immer das heißen mag – an den Haaren aufs Album zu zöge.

Root 70 ist eine der wenigen konsequenten Wennschon-Dennschon-Bands. Was sie machen, machen sie richtig. Ihre Musik kommt ohne Beipackzettel aus. „Man muss Entscheidungen treffen, wie es klingen soll, wie man es spielt und welches Material man auswählt. Es war mir wichtig, dass die Stücke zueinander passen. Jedes Zugeständnis an den zeitgenössischen Pop wäre da einfach rausgefallen.“ Wogram und seine Band haben den Mut, ihre Standards mit der Haltung ihres Lebensbackgrounds zelebrieren und den Jazz so zur Populärkultur zurückzuführen. Root 70 ist das Synonym für „Entdeckungen kann man in jedem Alter machen“. Die Songs sprechen für sich. Und wenn doch nicht? Antworten wir mit einem anderen Klassiker. So what! Even wise men can be wrong.