Phil Donkin's Masterfrown - Value
Phil Donkin & Masterfrown – Value
Nwog Records 026 / 0782321268177 / Vertrieb: Edel
Veröffentlichung: 26. April 2019
Ein offenes, global ausgerichtetes Album, das kongenial den Moment und die Ewigkeit vereint
Ein Ton, der tief ins Erdinnere dringt und unvermittelt aus dem Gravitationszentrum wieder an die Oberfläche zurückkehrt – oftmals genau dort, wo man es am wenigsten vermutet. Ein Ton, den sich niemand ausgedacht hat, sondern der so alt ist wie die Schöpfung selbst und auf sein Medium gewartet hat, um sich zu manifestieren. Ein Ton, der plötzlich da ist, hypnotisch, zwingend, vehement und nicht mehr wegzudenken. Eigentlich sind es ja vier Töne, doch die individuellen Timbres von Bassist Phil Donkin, Altsaxofonist Wanja Slavin, Bassklarinettist Joris Roelofs und Drummer Martin France verschmelzen mit derartiger Wucht zu einer symbiotischen Einheit, dass das Wort Ensemble im herkömmlichen Sinne mit erheblichen Unschärfen behaftet ist.
Bassist Phil Donkin hat mit seinen 37 Jahren einen langen Weg hinter sich. Von Hause aus ins englische Jazz-Leben hineingewachsen, spielte er dort mit jedem, der Rang und Namen hatte. Mit Ende Zwanzig zog es ihn nach New York, wo er sich ebenfalls schnell einen Namen als gefragter Sideman machen konnte. Seit einigen Jahren ist als drittes Standbein Berlin hinzugekommen, wo er eine Fixgröße in der sich stetig verändernden Szene geworden ist. Die lange Liste der Musiker, mit denen er kollaborierte, reicht von John Abercrombie bis Nils Wogram.
Donkins neues Album „Value“ markiert eine Zäsur. Die Musik ist gleichermaßen Rückschau, Ausblick und die Justierung der eigenen Mitte. Ohne dass er das geplant hätte, wurde daraus ein sehr autobiografisches Werk, in dem verschiedene Aspekte seines bisherigen Wegs ihren Niederschlag finden. Wenn ein Bassist in einem Atemzug Dave Holland und Charles Mingus als Vorbilder benennt, mag das zunächst nicht weiter überraschen, denn beide waren wegweisende Jazz-Bassisten. Und doch gibt es kaum zwei Musiker, deren Persönlichkeiten gegensätzlicher wären. Dave Holland steht für Struktur und Kontrolle, Charles Mingus hingegen für Impuls und Chaos. Donkin vereint beides in sich. Die Klarheit des Einen verbindet er mit der Passion des Anderen. „Während meines Studiums habe ich beide Bassisten viel gehört“, erinnert sich Donkin. „Bei Holland mag ich die Strukturen und wie er die rhythmischen Aspekte organisiert. Manchmal ließ mich seine Musik aber auch völlig kalt. Mingus ist das extreme Gegenteil. Er war mir in bestimmten Momenten sogar zu chaotisch. Für beide Musiker muss ich in einer bestimmten Stimmung sein, aber unbewusst habe ich versucht, ihre sehr unterschiedlichen Einflüsse zu vereinen. Struktur mit Chaos, das macht für mich Sinn.“
Jeder Song auf „Value“ macht den Eindruck, als würde sich Donkin etwas von der Seele reden wollen. Die CD hat eine große narrative Kraft. Doch wie jede gute Erzählung, so lebt auch diese aus sich selbst heraus. Der Bassist hat dafür kein spezielles Konzept entwickelt, sondern vertraut auf seinen Instinkt und Geschmack. Das gemeinsame Hören fängt immerhin mit dem Musizieren an. Er möchte sich keine hochtrabenden Projekte ausdenken, mit denen er am Ende das Interesse der Hörer verlieren könnte. Es geht ihm um Nähe und Dialog. „Ich möchte die Musik spielen und aufnehmen, die ich selbst hören will. Ich bin ja nicht nur Musiker, sondern auch Hörer. Im Lauf der Jahre habe ich so viel unterschiedliche Musik gespielt, auf die ich mich beziehen kann. Meine einzige Maxime lautet daher, ich will Musik spielen, die ich selbst hören will und mit der ich mich überraschen kann. Ich will nicht behaupten, dass meine Musik zeitlos wäre, aber wenn die Musik wirklich von und aus mir kommt, hat sie zumindest eine Chance auf etwas mehr Nachhaltigkeit. Das ist ja die einzige Kontrolle, die ich darüber habe. Ich weiß nicht, wie meine Songs bei anderen Leuten ankommen werden. Ich kann mich nur auf mich selbst verlassen.“
Nachdem er sich auf seinem letzten Album „The Gate“ mit Musikern aus seinem New Yorker Umfeld umgab, setzt er mit seiner Band Masterfrown ausschließlich auf europäische Kollegen. Es gibt kein Harmonieinstrument, sondern Donkin setzt voll auf die Gestaltungsmöglichkeiten zwischen drei Melodieinstrumenten. Allerdings ist auch die Auswahl seiner Mitstreiter nicht nur aus musikalischen, sondern mindestens ebenso aus biografischen Gründen erfolgt, auch wenn ihm das ironischerweise erst nach den Aufnahmen einfiel. „Mit Martin France habe ich oft gespielt, als ich in London lebte. Nachdem ich England verlassen hatte, verloren wir uns ein Stückweit aus den Augen. Ich wollte unbedingt wieder mit ihm arbeiten. Wanja Slavin ist für mich die Verbindung zu meiner Gegenwart in Berlin. Und Joris Roelofs lebte zur selben Zeit in New York wie ich. Ohne das forciert zu haben, steht jedes Mitglied der Band für einen bestimmten Teil meiner musikalischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Persönlichkeiten sind mir ungleich wichtiger als die Instrumente. Ich würde Joris niemals einfach durch einen anderen Bassklarinettisten ersetzen, sondern nur durch einen Musiker, der aufgrund seiner Persönlichkeit passt. Die Band könnte auch mit zwei Trompetern funktionieren.“
„Value“ ist zugleich ein sehr persönliches, autobiografisch geprägtes und wahrscheinlich gerade deshalb ein offenes, global ausgerichtetes Album, das kongenial den Moment und die Ewigkeit vereint. Es ist ein kollektives Solowerk, das weitgehend ohne Soli im konventionellen Sinne auskommt und trotzdem viel Raum für individuelle Spots gibt. Vor allem aber ist es ein sehr ganzheitliches Werk, das sich nicht zuletzt über seine ehrlich ausgetragenen Paradoxa und Widersprüche definiert, die eben die große Lebensnähe dieser Musik ausmachen.