ROME - The Hyperion Machine
ROME - The Hyperion Machine
Veröffentlichung: 12. August 2016
Trisol TRI551 CD / EAN 4260063945519 / Vertrieb: Soulfood Music
Tourdaten:
23.09.2016 Bochum, Matrix (Rockpalast)
24.09.2016 Köln, Stadtgarten
25.09.2016 Hamburg, Nochtspeicher
27.09.2016 Frankfurt, Nachtleben
28.09.2016 München, Backstage
30.09.2016 Leipzig, Naumanns
01.10.2016 Berlin, Privatclub
Gute Storys haben immer eine Vorgeschichte. Gute Platten auch, denn sie erzählen eine gute Geschichte. Hin und wieder kommt deshalb in unserer standardisierten Musikwelt ein Album raus, dessen Geschichte bereits vor dem ersten Ton beginnt. Auf die neue CD des luxemburgischen Projektes Rome trifft das unbedingt zu.
Nick Cave, Jacques Brel, Johnny Cash, Townes Van Zandt, Tom Waits, Michael Gira – Architekten der Melancholie wie diese sind es, die hier ihre Spuren im künstlerischen Ausdruck hinterlassen haben. Und über allem thront eine unverkennbare, tiefe Stimme.
Bereits der Titel „The Hyperion Machine“ setzt eine ganze Reihe von Assoziationen frei. Die Kette erstreckt sich von der griechischen Antike über Friedrich Hölderlin und Heiner Müller bis zu den Einstürzenden Neubauten. Was für ein Bogen. Und dann ein Glockenschlag. Die Musik nimmt ihren Lauf. Was hier beginnt, ist mehr als das turnusmäßige Statement eines Musikers, egal welchen Genres. Das ist etwas Ganzheitliches, das sich zwischen Unendlichkeit und Augenblick, zwischen Flüstern und Schreien in jedem Moment in seinen Facetten offenbart.
Jerome Reuter, der Kopf hinter dem Projekt Rome findet dafür eine ganz einfache Formel: „Ich mache das, was ich mag und hören möchte. Mich interessieren viele unterschiedliche Dinge. Warum sollte ich die nicht auch in meiner Musik hören wollen?“ Die beiläufige Selbstverständlichkeit, mit der er die große Geste heraufbeschwört, lässt den Meister des sicheren Zugriffs aufs Notwendige erkennen.
Vielleicht liegt es an seiner luxemburgischen Heimat, dass Jerome Reuter nicht nur das Große aus dem Kleinen generiert, sondern sich an die Wurzeln des heutigen Europa, in die griechische Antike zurück begibt. Denn genau dort schließt sich mit der aktuellen Flüchtlingskrise auch der Kreis zur Gegenwart. Das Verbindende ist das Trennende. Die Zeitreise ist gewaltig. Aber ein Album wie „The Hyperion Machine“ entsteht eben nicht im luftleeren Raum. Schon gar nicht, wenn ein Künstler ein so wacher Geist und guter Beobachter ist wie Jerome Reuter. „Während der Arbeit an dem Album ist viel passiert. Manch ursprüngliche Idee nahm plötzlich eine neue Bedeutung an. Dem habe ich mich nicht verweigert, sondern ich habe es in Kauf genommen. Meine Arbeiten fingen mitten in der Griechenlandkrise an, die mittlerweile nur noch am Rande die Nachrichten füllt. Der aktuelle Bezug war für mich eher zweitrangig, aber ganz ausblenden konnte ich ihn eben auch nicht. Wenn man etwas macht, das auch nur entfernt politisch oder auf die Gegenwart bezogen ist, kommt man an derart existenziellen Sachen nicht vorbei. Es geht doch gar nicht anders, als zu diesen Fragen Stellung zu beziehen.“
Um Missverständnissen vorzubeugen: Jerome Reuter sieht Rome definitiv nicht als politische Band. Nur legt er Wert darauf, als lebendiges Individuum selbst ein politisch denkender Mensch zu sein. Er kann und will seine Kunst nicht von seinem Leben abkoppeln. Wo die Schleusen zwischen beiden Bereichen sind, ist auch für ihn immer wieder eine Überraschung, doch wenn er sie findet, macht er sie durchlässig und lässt so viel Leben wie möglich ins Schwemmbecken seiner Musik einlaufen. Mit anderen Worten, man braucht keinen politischen Vorsatz, um ein immens politisches Album zu machen.
Reuter geht es nicht um Parolen und eineindeutig übersetzbare politische Floskeln. Es reicht ihm noch nicht einmal aus, sein akutes Unbehagen in Sound zu übersetzen, was an sich schon legitim wäre. Er bringt es fertig, von den unkontrollierbaren Läufen der Zeit ausgelöste Befindlichkeiten in einen größeren Kontext einzubinden. Die ästhetischen Ansätze komplex denkender Menschen können zuweilen ganz simpel sein, und doch laufen sie oft auf noch viel komplexere Sachverhalte heraus, die sich am Ende wieder in ganz einfachen Klangergebnissen äußern. Reuter sucht nicht nach der größtmöglichen Umleitung, sondern er sagt frei heraus, was er zu sagen hat. „Ich komme aus der Punk-Szene. Aber das sogenannte Sloganeering ist mir zu simpel. Ich will das Regelwerk, vor dem ich einst geflohen bin, nicht durch einen neuen, viel strengeren Kanon ersetzen. In der Literatur versucht man meist eine Haltung zu finden, die ein Stückweit über den Dingen steht. Da geht es oft darum, für aktuell politische Zustände allgemeinere Bilder zu finden. Daran orientiere ich mich.“
In seiner narrativen Wucht funktioniert „The Hyperion Machine“ wie ein Hörspiel. Diese erzählerische Kraft hat sich eher unbeabsichtigt eingestellt. Die Musik steht für sich selbst. Wenn der Hörer sich trotzdem die Sinnfrage stellt, ist das ein willkommener Mehrwert. Doch gerade der Effekt, dass sich beim Hören einer CD die Essenz eines Hörbuchs absetzt, unterscheidet Rome von vielen anderen Bands. Es gibt keinen Beipackzettel, keine Höranleitung für die Songs. Man kann sie auf sich wirken lassen, ohne sich Gedanken zu machen, aber wenn man sich Gedanken machen will, kann man sich eben verdammt viele Gedanken machen. „Musik ist ja nicht nur für den Kopf, sondern auch für den ganzen Körper da“, postuliert Reuter. „Man soll sich von Melodie und Groove und nicht nur von der Botschaft angesprochen fühlen, nachdem man mal darüber nachgedacht hat. Es funktioniert genau umgekehrt. Musik besteht aus Schwingungen, die direkt auf den Körper wirken. Der Hörer soll kein Vorwissen mitbringen müssen. Aber wenn er dann tiefer dringen, mehr als nur diese physische Erfahrung mitnehmen und eine ganze Welt entdecken kann, ist es umso besser. Wenn sich alles über den Inhalt definiert, macht man den Einstieg nur unnötig schwer. Ich will eher Anreize zur Bereicherung schaffen.“
Die Welt reicher machen wollen – dieser Anspruch ist hoch gesteckt. Doch wenn man genauer hinsieht, stellt sich die Frage, warum dieser Anspruch tatsächlich so hoch ist. Sollte es nicht ein Grundmenschenrecht sein, außer am materiellen und ideellen Reichtum der Welt zu partizipieren, dieselbe Welt auch zu bereichern, um so das Gleichgewicht zu wahren? Auf „The Hyperion Machine“ werden viele Fragen auf einmal gestellt, die zu weiteren Fragen führen. Die Erkenntnis von heute kann schon morgen obsolet sein. Einfache Antworten sind nur was für Populisten.
Wie jedoch wahrt Jerome Reuter selbst die Balance aus Geben und Nehmen, dem inneren Selbst und der äußeren Welt? Im Studio wird fast alles im Alleingang eingespielt, live handelt es sich um eine Band, in der Reuter eher zurückhaltend agiert. Er selbst nennt es ein Projekt, um sich alle personellen und klanglichen Formate offenzuhalten. Die subtile Power, mit der er uns seine Geschichten erzählt, setzt sich über alle Epochen oder Kategorien hinweg. Es gibt nichts, was in dieser Musik nicht geht. Elemente aus Rock, Jazz, Klassik und Spoken Word kommen zusammen, um eine Geschichte in 3D zu erzählen, die sich nicht vor dem Ohr aufbaut, sondern den Hörer integriert. Die literarischen und philosophischen Motive sind ebenso weit gefächert wie die musikalischen Einflüsse.
„The Hyperion Machine“ ist ein ganz normales Album, und doch viel mehr als das. Ein Füllhorn von konkreten und imaginären Deutungsmöglichkeiten fügt sich zu einem großen sinnlichen Kommentar über die Herkunft der Gegenwart über das Jetzt hinaus.
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Jerome Reuter steht in einer langen Tradition. Melancholisch, mit einer Mentalität irgendwo zwischen Exilant und Lonesome Cowboy, zogen diese Outsider mit ihrer Gitarre von Ort zu Ort, verfolgt von ihren Träumen und Dämonen, sehr oft auch von ihrer Vergangenheit. Jacques Brel, Johnny Cash, Townes Van Zandt, Tom Waits, Leonard Cohen, Michael Gira, Nick Cave – Architekten der Melancholie wie diese sind es, die ihre Spuren in Jerome Reuters künstlerischem Ausdruck hinterlassen haben. Seine Musik vereint amerikanische Folklore mit Chanson und der getriebenen Tristesse des englischen Post Punk, ‚Chanson Noir‘ nannte er es mal. Und über allem thront diese unverkennbare, tiefe Stimme. Eine Stimme, der man beruhigt und erwartungsvoll lauscht und von der man glauben will, sie wisse um die Art und die Bestimmung der Menschen. Die Texte seiner Konzeptalben – in denen ein einzelner Song trotz eingängiger Melodie immer auch ein Diskursfragment und keine Analyse historischer Wirklichkeit ist - können sich um die Werke von William S. Burroughs oder Bertolt Brecht drehen, oder lassen einen in literaturgetränkte Welten wie die Paul Bowles oder Jack Londons eintauchen, gesellschaftliche und geschichtliche Hintergründe aufgreifen oder die Freiheit der Kunst verteidigen, immer aber sind sie ein Ausdruck von Freiheit.
Besonders angetan haben es ihm die Outsider der Menschheitsgeschichte, die Underdogs, insbesondere des 20. Jahrhunderts. Das können anarchistische Rebellen sein (wie auf „Flowers From Exile“ von 2009), der französische Widerstand („Nos Chants Perdus“ von 2010), der Freiheitskampf im südlichen Afrika („A Passage to Rhodesia“ aus dem Jahre 2014) oder Revolutionäre und Untergrundkämpfer wie in ROMEs ambitionierter Trilogie „Die Aesthetik Der Herrschaftsfreiheit“ (2011), welche an die Werke u.a. von Peter Weiss und Pablo Neruda angelegt ist. ROMEs Protagonisten sind Menschen, die alles für ihre Ideale geben und würdevoll durch das Fegefeuer schreiten, das ihnen das Leben entgegenwirft. Doch dem Werk des Luxemburgers liegt immer die Idee der Völkerverständigung zugrunde. Es geht um das Freilegen der verschütteten Verbindungsgräben zwischen den Nationen.
„Bewegung entsteht durch Haltung“ – dieser auf der ersten Veröffentlichung, der „Berlin“ EP aus dem Jahre 2005, postulierte Slogan beweist auch heute noch seine Gültigkeit. Jerome Reuter selbst verkörpert dieses Ideal der standhaften Rastlosigkeit – als Preis der inneren Freiheit – nur zu gut: Treu seiner künstlerischen Vision ergeben, ein Botschafter der Melancholie, der elegischen gleichsam an Protest-Songs erinnernden Hymnen, - Manifeste, niemals aufzugeben. In diesem selbstgebotenen Auftrag bereist er die ganze Welt, der Mann mit seiner Gitarre, trägt seine Stücke mit Inbrunst, Ehrlichkeit und tief empfundener Empathie vor. Bei ROME gibt es keine Provokation, keine Effekthascherei durch Schocks irgendwelcher Natur, keine Frivolität des Zweideutigen, keinen phraseologischen Donner.