Tilo Weber Quartet - Four Fauns

Tilo Weber Quartet - Four Fauns

Malletmuserecords / mm002 / EAN 4251546300017 / Vertrieb: www.malletmuserecords.com

 

Veröffentlichung: 23. November 2018

 

Geduld ist die Mutter aller Tugenden. Zur Arbeitsplatzbeschreibung von Jazzschlagzeugern zählt sie jedoch nur in Ausnahmefällen. Auf die Kunst der persönlichen Zurückhaltung verstehen sich nur äußerst wenige Drummer. Paul Motian war einer von ihnen, Jack DeJohnette ist ein weiterer Vertreter dieser seltenen Spezies. Im deutschen Jazz-Drumming verbindet man mit der hehren Haltung des expressiven Understatements seit einigen Jahren vor allem einen Namen: Tilo Weber.

 

Am Anfang steht ein Drum-Beat, schleppend, vehement, nichts vorgebend, was es nicht zu hundert Prozent ist. Ein Bass gesellt sich in derselben Gangart dazu, ein Saxofon schwingt sich erhaben über diesen zwingenden Groove und wird von einer Trompete abgelöst. Das Schlagzeug scheint sich darunter fast zu verlieren und nach einer neuen Aufgabe zu suchen. Schon in den ersten Tönen wird das Manifest dieser Platte vorgestellt. Drei starke individuelle Stimmen und ein Schlagzeug, das in erster Linie Räume öffnet, um den anderen drei Timbres so viel Space wie möglich zu schaffen, um ihr Bukett voll zur Entfaltung zu bringen.

 

Das Setting von Trompete, Saxofon, Bass und Schlagzeug erinnert in mehrfacher Hinsicht an das Ornette Coleman Quartet aus den Sechziger Jahren. Es ist nicht nur der Klang der vier Instrumente selbst, sondern auch die Haltung, mit der sie zu einem Ganzen verschmelzen. Ornette hatte als einer der ersten Musiker des Modern Jazz erkannt, dass es nicht darauf ankommt, jedem Musiker soviel solistische Erfüllung wie möglich einzuräumen, sondern dass es um den Sinn jedes einzelnen Beitrags innerhalb der kollektiven Kommunikation geht. Tilo Weber schließt an diese Erkenntnis aus der Distanz von 50 Jahren mit seinem eigenen Vokabular an.

 

Für ihn selbst und alle, die schon mit Webers Musik in Berührung gekommen sind, mag dieses Bekenntnis überraschend sein. Bislang war der Berliner eher ein Musiker, der mit seiner ruhigen, zurückhaltenden Art neue Horizonte erschloss. Egal, ob mit seiner Avantgarde-Band Animate Repose, mit der er 2016 debütierte, als Drummer im Trio von Clara Haberkamp oder im Zusammenspiel mit seinem Mentor und Kollegen David Friedman – Weber suchte bislang immer nach dem Neuen, Ungesagten in der Musik. Das tut er freilich auch mit „Four Fauns“, doch er setzt sich einen Rahmen von Konventionen, die er im Jazz der 1960er Jahre findet. Diesen Vorgaben beugt er sich nicht etwa, sondern er macht sie sich zueigen und jongliert mit ihnen. „Bislang“, so Weber, „habe ich immer versucht, mit allen Konventionen zu brechen. Aber diese Musik der 1950er und -60er Jahre ist ein Teil meiner Sprache, den ich nicht missen will. Diesmal wollte ich mir bewusst Parameter setzen, innerhalb derer ich mit gängigen Konventionen brechen kann.“

 

Auf sehr persönliche und individuelle Weise gelingt es dem Drummer, das in der Gruppe gebündelte Individuelle in Verhandlung mit der progressiven Jazztradition zu bringen. So mag es auch nicht verwundern, dass die zehn Songs des Albums in jedem Augenblick gleichermaßen vertraut und aufregend wirken. Das Authentische ist wichtiger als das Innovative, das Verbindliche wiegt schwerer als das Komplexe. Manche Melodien meint man schon beim ersten Hören mitsingen zu können – nicht weil sie vorhersehbar wären, sondern weil sie sich dem natürlichen Impuls des Lebens anpassen. Selbst das Schlagzeug scheint unentwegt Melodien vor sich hin zu summen. Aus der geerdeten Sanglichkeit der vier einzelnen Stimmen ergibt sich auch in freieren Passagen ein kollektiver Hymnencharakter, wie wir ihn eben gerade aus jenen sakralen Momenten des Sixties-Jazz kennen, als Freiheit und Zugänglichkeit noch eine untrennbare Symbiose eingingen.

 

Tilo Webers Kompagnons in dieser Suite allzumenschlicher musikalischer Impulse sind Trompeter Richard Koch, Saxofonist Hayden Chisholm und Bassist Andreas Lang. Mit 28 Jahren ist Weber das mit Abstand jüngste Mitglied seiner eigenen Band. Doch was ihm die anderen an Jahren voraushaben, gleicht Weber mit Souveränität, Gelassenheit und seiner Fähigkeit aus, in jedem Kontext das spirituelle Epizentrum zu bilden. Webers Energie ist auch dann spürbar, wenn man ihn gar nicht hört. „Mit diesen drei Musikern zu spielen, fühlte sich an, wie mich auf einer Couch zurückzulehnen“, resümiert der Drummer. „Nicht, weil ich dabei nichts zu tun brauche, sondern weil es so ein Genuss ist ihnen zuzuhören, wenn sie meine Stücke spielen. Kompositorisch lehne ich mich viel weiter aus dem Fenster als auf früheren Platten, indem ich Stücke für drei Stimmen geschrieben habe. Als Schlagzeuger musste ich dann nur noch mit dem Flow meiner Kompositionen mitgehen.“ Auf diese Weise wird „Four Fauns“ zu einem introspektiv expressiven Jazzband-Kino, das auch der Hörer aus der Perspektive des Schlagzeugers wahrnehmen kann.

 

 

Tilo Weber wäre nicht er selbst, wenn er nicht im letzten Stück, einem Remix des Openers „Zykle“ sein ganzes Konzept folgerichtig über den Haufen werfen und mit Karacho die Gegenwart rüberholen würde. Das Beste der Tradition findet man eben doch immer wieder in der Zukunft. Tilo Weber versteht sich nicht zuletzt deshalb so brisant darauf, in der zeitlosen Gegenwart zu ruhen, weil er sich ohne Scheuklappen gleichzeitig in die Vergangenheit und Zukunft auszudehnen wagt. „Four Fauns“ ist Vieles – aber mehr als alles Andere ist es eine ehrliche Hommage an die Musik mit all ihren Facetten.