Viviane De Farias - Vivi with Paulo Morello & Kim Barth feat. Raul De Souza

Viviane de Farias – Vivi 
with Paulo Morello & Kim Barth feat. Raul De Souza

In&Out Rec   IOR CD 77130-2   Vertrieb: in-akustik  

Veröffentlichung: 31. März 2017

 

Wenn eine Stimme und Poesie aus Rio auf Kompositions- und Arrangierkunst aus Deutschland treffen, dürfte das nicht allzu häufig in einen solchen Glücksfall münden: Viviane de Farias und Morello & Barth - ein fruchtbares Team seit über zehn Jahren, das sich nun nach „A Moment Of Passion“ (2007) zum zweiten transatlantischen Gipfel zusammengefunden hat, um dem Lebensgefühl einer Stadt die Reverenz zu erweisen.    


Das brasilianische Portugiesisch beherbergt einen Reichtum an Wörtern, die sich in keine andere Sprache eins zu eins übersetzen lassen. „Ginga“ ist ein solches Wort. Die „ginga“ kann einen leichfüßigen Swing bezeichnen. Sie kann den Gang einer Hüften schwingenden Morena charakterisieren. Aber sie meint auch ein einzigartiges Lebensgefühl, das eines jeden Cariocas, eines jeden Bewohners von Rio. In seiner Komposition „Ginga Carioca“ hat der großartige Hermeto Pascoal dieses Lebensgefühl mit all seinen Widersprüchlichkeiten unvergleichbar aufgefangen. Viviane De Farias hört in dem turbulenten Stück des brasilianischen Freigeistes die Polizeisirenen, die Schüsse aus der Favela, die Hektik einer verrückten Stadt, in der jeder einen Therapeuten hat – aber auch den Stolz, am schönsten Ort der Welt zu leben. Deshalb musste sie einfach einen Text schreiben auf diese instrumentale „Ginga“. Denn so fern sie in der deutschen Wahlheimat Ipanema sein mag, sie ist eine Carioca und wird es immer bleiben. All das, was in Rio passiert und passierte, der Samba und der Choro, die Bossa Nova, der Karneval, der sonntägliche Fußball im Radio – sie hat es selbst erfahren und gelebt.

„Ich habe gelebt“ - genau das bedeutet die Kurzform ihres Namens: „Vivi“. All die Facetten und Phasen, die Viviane de Farias ge- und durchlebt hat, finden sich auf diesem, ihrem dritten Album für In & Out zu einem großartigen Songzyklus gebündelt. Ihre Erinnerungen, Sehnsüchte, Träume, ihre musikalischen Visionen zwischen Rio de Janeiro und dem Rest des Erdballs. Mit ihrem fulminanten Quintett kreiert sie dabei eine Spannung von Innenschau und Bewegung, von Ausgelassenheit und Traurigkeit, und immer wieder von Gestern und Heute: Die Zeit, sie ist das große Thema in den Versen von „Vivi“, die in einer Familie aufwuchs, in der Eltern und Geschwister bei der Fluggesellschaft arbeiteten. Und so hat sie über den Wolken häufig Bekanntschaft gemacht mit diesem Zwischenreich der Zeitzonen.

Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum sie in ihrer Stimme Qualitäten vereinigen kann, die von zeitlosem Wert sind und die sich so wenig um Klassifizierungen oder Stile kümmern müssen: Da ist der klassische Operngesang, auf dessen Basis sie immer noch aufbauen kann, den sie aber verließ, weil sie ihrem Publikum näher sein wollte. Da sind die rasanten Scats des Bebop, die mit den portugiesischen Worten eine Färbung fern des US-Jazz bekommen. Und da ist immer die Schönheit der klaren Linie und Phrasierung, ein Gesang, der nahe an der Sprachmelodie ist – eine hohe Tugend gerade in Brasilien.
 
Meisterhaft wird diese Stimme von ihrem Quintett gesetzt. Ohne Paulo Morello sagt Viviane, würde dieses Album gar nicht existieren. Denn er ist nicht nur der Virtuose an der Gitarre, von ihm stammen auch viele der Kompositionen. Bevor sie ihre Lyrik erdachte, hat er diese Stücke eigens auf Vivianes Vokalkunst zugeschneidert und schließlich mit raffinierter Detailarbeit arrangiert. Mit Morello bildet Kim Barth seit langen Jahren ein künstlerisches Doppelgestirn, der gewiefte Multiinstrumentalist an Flöten und Saxophonen steuert seine luftige Arbeit immer passgenau und mit Esprit bei. Der Bayer und der Däne, die doch seit Beginn des Jahrtausends so  tief die „Ginga“ von Rio und ihre Musik eingesogen haben, dass sie schon als halbe Brasilianer gelten. Ihre zweite Heimat entdeckten sie schon vor 15 Jahren, als sie an den Stränden Rios Songs entwickelten, waren mit den Bossa-Größen Alaide Costa, Johnny Alf, Leny Andrade und Pery Ribeiro auf Tour und im Studio. Und dann ist da Vivianes Partner Mauro Martins, der an den Drums mit einem unfassbaren Gefühl für Metrum und perkussiver Varianz gesegnet ist, und ebenfalls für Komposition und Arrangements verantwortlich zeichnet. Knackig und elegant gleichermaßen Bassmann Dudu Penz mit einem Sinn für tropisches Funkfeeling.Tastenmann Tizian Jost, der querstehend und komplex am Piano, aber auch fließend an den Vibes agiert. Summa summarum: Eine Gruppe von Musikern, die mehr Begeisterung, Respekt und Flexibilität teilen, kann man sich kaum denken.

Ihrer ideenreichen Spielfreude zuzuhören, ist ein Genuss: „Meu Balanço“ leitet mit seinen Parallelgängen von Bass und Piano in einen sonnigen Partido Alto, diese fantastische synkopische Samba-Form, die den Hörer sofort in den Karnevals-Puls von Rio katapultiert. Von rhythmischer Finesse durchtränkt auch „La Valse“, in ihr sieht Viviane de Farias eine Reminiszenz an das gleichnamige Stück von Maurice Ravel. Wie der Impressionist bauen sie und ihre Band eine Spannung zwischen Walzer und ungeraden Metren, zwischen jazzigen Harmonien und französischem Charme auf - ein sympathisches Straucheln und Stolpern, das sich bis in die Lyrics zieht. Diese aufregende Unentschiedenheit des Taktes siedelt auch in „Baiãozinho“, der federleichten Deodato-Komposition, die Paulo Morello nun zwischen der Bossa aus Rio und dem Baião aus dem Norden oszillieren lässt. Der spannungsreichste Moment dieser Platte ist jedoch zweifellos das „Soneto da Boneca Apática“, das Sonett der apathischen Puppe, geschrieben in einem Moment der Leere und Starre, in dem ein Samba Reggae kollidiert mit martialischen Marschrhythmen, Sprechgesang und freies Pianospiel mit einer Opernstimme, die voller Leidenschaft einen Ausweg sucht aus dem Gefangensein.

„Vivi“ flimmert in aufregenden Gegensätzen, ganz wie das Leben selbst: In sanfte Erinnerungen ans sonntägliche Rio lässt uns die Sängerin mit „Domingo“ eintauchen. Das glimmende Fender Rhodes und ein wunderbar entspanntes Saitensolo beschwören die Faulenzernachmittage der Kindheit herauf. Fast klassisches Flair, wie der getragene, majestätische Gesang eines Schumann-Lieds scheint in „More Than Friends“ auf, die Geschichte einer unmöglichen Liebe, die in eine andere Zeit fliehen möchte. „Aéroporto“ hebt ab zu einem träumerischen Flug durch den Kosmos, der Zeitreise und Geleit ins Reich des Schlafs zugleich ist, gesungen mit der Zärtlichkeit und dem Dank der Mutter an ihre Tochter. Ihr widmet Viviane de Farias ebenso den heimlichen Star des Albums, „Luminosa“, aus der Feder des unvergleichlichen Raul de Souza. Die über 80-jährige Posaunenlegende aus Rio ist ein wandelndes Lexikon des brasilianischen Klangkosmos, hat mit Cannonball Adderley, George Duke, Herbie Hancock, Airto Moreira & Flora Purim gespielt und sprudelt voller Anekdoten. Dass er mit seinem warmherzigen Ton für „Vivi“ gewonnen werden konnte, garantiert einen Gastauftritt, der die Verankerung in der Musikhistorie des Zuckerhuts atemberaubend abrundet.

So wie einst Bossa-Erfinder Antônio Carlos Jobim in seinem „Samba Do Avião“ über Rio einschwebte, so blickt auch Viviane de Farias aus den Lüften auf ihr Rio herab, um dann mit ihren fünf Musikern einzutauchen in die Widersprüche dieser Stadt und ihre „Ginga“ - ein Lebensgefühl, das auch uns nach dem Hören nicht mehr loslässt.