Anthony Cox, Cornelius Claudio Kreusch & Johannes Tonio Kreusch-GESTALT!
Es ist immer wieder faszinierend, wenn improvisierte Klänge Gestalt annehmen und zu mitreißender Musik werden. Für dieses Wunder braucht es entsprechende Musiker, die dieses Gespräch ohne Worte führen und entwickeln können. Der Jazzpianist Cornelius Claudio Kreusch und sein Bruder, der klassische Gitarrist Johannes Tonio Kreusch, haben seit langem bewiesen, dass sie dazu in der Lage sind, obwohl oder vielleicht gerade, weil sie aus unterschiedlichen musikalischen Genres und Welten kommen. Ihr jüngstes Album mit dem programmatischen Namen „GESTALT!“ aber halten sie selbst für einen wichtigen Höhepunkt ihres bisherigen Dialogs des improvisierenden Miteinanders.
Was auch am Dritten im Bunde liegt, der hier zwischen den beiden Stilistiken der Kreuschs vermittelt, das sonst nicht unproblematische, sich gerne überdeckende Gespann von Gitarre und Klavier völlig harmonisch klingen lässt und obendrein auch noch in jedem Moment ein sicheres rhythmisches Fundament ausbreitet: der amerikanische Bassist Anthony Cox. Er ist einer der ältesten Freunde und Weggefährten von Cornelius Claudio: „Als ich damals noch während des Studiums am Berklee College of Music aus Boston nach New York kam, war Anthony der erste amerikanische Musiker, der mich völlig akzeptierte, mir Türen öffnete und mir das Gefühl gab, dazu zu gehören“, erzählt Kreusch. Mit seiner Experimentierlust und seinem, mit stoischer Ruhe kombinierenden, besonders beim Bogeneinsatz in Richtung Moderner Musik ausgreifenden Spiel gehört er heute zum Inventar der New Yorker Jazzszene. Er arbeitete mit alten Meistern wie Sam Rivers, Stan Getz, Elvin Jones oder Craig Harris, ebenso wie mit Innovatoren wie Henry Threadgill oder John Scofield; er gehörte fest zu den Bands von Anthony Davis, James Newton oder Marty Ehrlich und hat seit den Neunzigerjahren selbst einige Alben als Bandleader veröffentlicht.
Das durch Frank Sinatra populär gewordene Postulat des Song „New York, New York“; „Wenn du es hier schaffst, schaffst du es überall“ hat als einer der wenigen deutschen Jazzmusiker auch Cornelius Claudio Kreusch erfüllt. Viele Jahre lang war sein Hauptwirkungsort ein Künstler-Loft im East Village in Manhattan, mit Nachbarn wie Philip Glass, Jim Jarmusch, John Lurie, Robert Rauschenberg u.a. Die anregende Atmosphäre puschte ihn zu seiner heutige Trends vorwegnehmenden Jazzfusion mit Funk und Afrokaribischem; mit seinen Bands „Black Mud Sound“ oder „Fo Doumbe“ spielte er in den legendären New Yorker Clubs wie „Blue Note“ oder Knitting Factory“ und auch auf den Bühnen der großen Festivals und Konzerthäuser; sein Solo „Live! at Steinway Hall / New York“ wurde für den GRAMMY® auf die Auswahlliste genommen, unter dem Titel „New York City – uptown downtown“ wagte er sogar einen Ausflug in den Pop, und auch seine Internet-Firma MUSICJUSTMUSIC®, mit der er auch zum preisgekrönten Entrepreneur wurde, hatte ihren Wirkungskreis lange von München und New York aus.
Johannes Tonio Kreusch hat seine amerikanische Vergangenheit, studierte in New York an der Juilliard School of Music, lebte einige Jahr lang im Loft mit seinem Bruder und hatte 1996 sein Debut in der Carnegie Recital Hall. Doch am Ende zog es ihn, den in seiner Musik stilleren und suchenden nach dem Gegenentwurf zum in New York auch in der Musik gerne vorgeführten „Schneller, Höher, Weiter“ wieder zurück ins alte Europa. Hier spielte er sich unter anderem mit seinen revolutionären Heitor-Villa-Lobos-Rekonstruktionen in die erste Riege der Klassiker, blieb aber immer auf der Suche nach neuen Klängen und Ausdrucksmöglichkeiten des Gitarrenklangs, was ihn auch als Pädagoge und Festival-Leiter zu einer prägenden Figur der Szene macht. Sein gerade neu erschienene Hermann-Hesse-Hommage „Siddhartha“ zeigt ausgezeichnet seine Offenheit für Präparationen der Gitarre und für spieltechnische Experimente, aber auch seine Fähigkeit, im Rahmen einer klassischen Tongebung zu improvisieren, übrigens im Gespann mit der Thomas-Mann-Hommage „Zauberberg“ seines Bruders Cornelius.
Wie „GESTALT!“ beweist, sind diese drei solitären Künstler gerade wegen ihres jeweils ganz unterschiedlichen Naturells ein perfektes Dreigestirn, um völlig freiem gemeinsamen Musizieren Form zu verleihen: Der Autochthon in der Tradition der schwarzen Musik Verwurzelte, der ewig neue Reize suchende Feuerkopf und der in der Tongestaltung und der mystischen Tiefe der europäischen Musik Ruhende. Anthony Cox hat das intuitiv und früh erkannt: Als er vor zehn Jahren zu einem Konzert mit Cornelius Claudio Kreusch, Will Calhoun und Klaus Doldinger bei den – von beiden Kreuschs als künstlerische Leiter betreuten – Ottobrunner Konzerten zu Gast war, ergab sich die Gelegenheit zu einer spontanen Session mit den beiden Brüdern. Hinterher sagte Cox nur: „Cornelius, das müssen wir wieder machen und aufnehmen.“
Lange hat es gedauert, doch nun hat dieses überfällige Gipfeltreffen in jeder Hinsicht Gestalt angenommen. Cox machte Ernst, buchte sich selbst den Flug, und zu dritt ließ man in der intimen Atmosphäre von Cornelius Claudio Kreuschs Münchner Studio den aufgestauten Ideen für dieses schon von der Besetzung her ungewöhnliche Trio freien Lauf. „Zwei Nachmittage haben wir einfach drauflos gespielt, und das Band war Zeuge,“ erzählt Kreusch. Die hier dokumentierte Essenz dieser spontanen Sessions begeistert. Weil diese drei begnadeten Musiker sich wie von Zauberhand geleitet in der kreativen Führung abwechseln und ergänzen; weil sie – anders etwa als bei vielen auch deswegen in Verruf geratenen Freejazz-Sessions – ein grandioses Gespür für das richtige Ending der einzelnen Improvisationen beweisen; und weil so fast jedes Movement eine Song-Struktur bekommt, obwohl diese nie beabsichtigt war.
Mehr noch, dieses Album verblüfft den Hörer wie lange keines. Schon die geniale Idee, die Lexikon-Definition von Gestalt zu Stück-Titeln zu machen: „A configuration/ A Pattern of elements/ So unified/ As a whole/ That it cannot/ Be described/ Merely/ As a sum/ Of/ Its/ Parts“. Zusammen mit dem außergewöhnlichen, mit Symmetrie, Form- und Zahlensymbolik arbeitenden Artwork des Albums ergibt sich ein fast magisches Zusammenspiel von Musik, Wort und Bild, parallel zu dem magischen Miteinander der Musiker, bei dem sich Ursache und Wirkung, Vorher und Nachher aufheben. So ist „GESTALT!“ der kühne, aber gelungene Dialog dreier Freigeister und Suchender in der universellsten aller Sprachen, der Musik.
FM 249-2 / GLM / 4014063424921 / Vertrieb: Soulfood /
Veröffentlichung: 07. Februar 2020