Carolyn Breuer & Andrea Hermenau – Oneironaut
Subtiler kammermusikalischer Jazz, der tief berührt und die Kraft besitzt, Träume ins Positive zu wenden. Andrea und Carolyn können Geschichten erzählen, die der Seele Flügel verleihen.
Wenn Jazz, wie der große amerikanische Jazzautor Whitney Balliett einmal meinte, „the sound of surprise“ ist, dann verkörpern die Saxophonistin Carolyn Breuer und Andrea Hermenau diesen Geist in besonderer Weise. Von grenzenloser Neugier getrieben verlassen sie gern mal den von Puristen noch zugestandenen Bereich des Jazz, Carolyn in Richtung Symphonieorchester, Kinderrap oder Urban Folk, Andrea in weltmusikalische Gefilde oder bayerische Kabarettprogramme.
Etwas noch Entlegeneres, gar etwas Unzugängliches mag man hinter dem fremdartigen Titel „Oneironaut“ wittern, doch schon das Eröffnungsstück „My Foolish Heart“, die in ihrem unerwarteten 7/4-Takt alles andere als standardisierte Version des Standards, verspricht ein reines Jazzalbum. Dieses Versprechen wird bis zum letzten Ton eingelöst mit eleganten, mitunter elegischen Klängen, faszinierenden, fantasievollen Geweben aus Saxophon, Klavier und quasi-instrumentalem Gesang sowie Originals, die poetische Kleinodien darstellen, zart und leuchtend. Hier wird kompromisslos gejazzt, tief aus dem Herzen kommend und tief in den Roots verankert, hochsensibel, frisch. Und mit der wundersamen vogelflugartigen Leichtigkeit, die braucht wer sich sicher in Träumen bewegt. Ein Oneironaut ist nämlich „jemand, der seine Klarträume ins Positive steuern kann und somit auch Albträume in angenehme Träume verwandeln kann, wie ein Steuermann, der im Meer der Träume in die richtige Richtung navigiert. Genau das möchten wir mit unserer Musik beim Hörer bewirken“, erklärt Carolyn, die 2018 mit Andrea das Quartett gegründet hatte, das gerade in Corona-Zeiten, als Auftrittsmöglichkeiten rar waren, seine kreativen Stärken entfaltete. Es war eine Zeit der Einkehr und des verstärkten Komponierens, worin sie auch eine Aufgabe sahen, wie Andrea erläutert: „Nachdem durch die Kontakt- und Reisebeschränkungen die Wichtigkeit von mentalen und emotionalen Oasen für die Menschen umso deutlicher wurde, haben wir gemeinsam Musik komponiert, die den Menschen die Möglichkeit eröffnen soll, sich in andere Welten zu träumen.“
Keine Überraschung ist freilich, dass die beiden erfolgreichen Bandleaderinnen zusammenfanden. Es war nur eine Frage der Zeit bis die beiden Münchnerinnen die Kompatibilität ihrer Gaben als ausgesprochen innige und lyrische Melodikerinnen und kreative Komponistinnen entdeckten.
Carolyn Breuer ist nun schon seit über 30 Jahren auf den internationalen Bühnen und hat zahlreiche CD-Aufnahmen gemacht. 1993 zeigte sie an der Seite des angesehenen Posaunisten Hermann Breuer auf dem Album „Family Affair“ (Enja 8002), dass der Jazz-Apfel nicht weit vom Stamm fällt. Zu den denkwürdigen Alben der Ausnahmesaxophonistin gehören „Serenade“, daß sie mit dem Concertgebouw Orchestra verwirklichte und daß ihr als erste Jazzerin den Heidelberger Künstlerinnenpreis einbrachte sowie „Four Seasons Of Life“, ein opulentes Opus um Leben und Tod. Die Pianistin und Sängerin Andrea Hermenau wurde durch die Band „Etna“ bekannt, war mit ihrem Quintett 2020 für den BMW Welt Jazz Award nominiert und erhielt 2021 den Förderpreis Musik der Stadt München. Auf Enja hat sie vier Alben mit den „drei Damen“ vorgelegt, die augenzwinkernd bayerischen Dreigesang mit swingendem Jazz, Chanson und Pop verbinden, zuletzt 2022 mit ihrem Weihnachtsalbum „Im Woid is so staad“. Gemeinsam legten sie bereits die 5. LP der Reihe „Jazz on Vinyl“ vor. Als Pianistin und Sängerin ist Andrea, die als Synästhetikerin Farben, Töne und Zahlen als Einheit erlebt und familiär bedingt auch tief in die südosteuropäische Musik eingetaucht ist, vielseitig. Als Vokalistin zart und fein, als Pianistin geschmeidig und nuancenreich, als Begleiterin hellhörig, als Interpretin stets die Essenz eines Songs treffend, ist neben dem klavierbegleiteten Liedgesang ihre Spezialität der quasi-instrumentale Einsatz der Stimme, manchmal in gleichzeitiger Scatimprovisation zur Klavierstimme. Vokal- und Saxophonstimmen umkreisen sich, verschmelzen, schweifen wieder auseinander und machen dabei anspruchsvollste Hörer zu Klanggenießern. Dieser einzigartige Ensembleklang ist zum Markenzeichen der Band geworden. Andrea findet faszinierend an Carolyns Spiel, dass sie „tief eintauchen kann in die Musik auf eine ganz schöne Weise. Das hat mich die ersten Male, als wir Duo gespielt haben ganz fasziniert und ich habe gedacht: Mit der mag ich gerne Musik machen.“ Wir erleben das in „Heile Weltschmerz“, der einzigen Duo-Aufnahme des Albums. Carolyn verfügt als Alt- und Sopransaxophonistin über die seltene Gabe mit wenigen Tönen viel zu sagen und exerziert Jazz nicht als Kraftakt oder als intellektuellen Zeitvertreib, sondern drückt damit tiefe Gefühle aus, die man nie und nimmer in Worte fassen könnte. Dabei kommt nie ein überflüssiger oder unaufrichtiger Ton über ihre Lippen und diese Offenheit rührt ans Herz. Sie erklärt: „An Andrea finde ich ganz besonders, dass sie nicht nur eine hervorragende Pianistin ist, sondern auch sehr einfühlsam begleitet und das macht es einem sehr leicht, sich während des Improvisierens fallen zu lassen.“ Beiden fällt dies umso leichter durch die Mitwirkenden der übrigen Stücke. Mit Henning Sieverts zupft schlicht einer der profiliertesten Tieftöner der Republik den Bass und Christian Lettner ist von Anbeginn Drummer des Quartetts und wie Andrea meint „ein sehr aufmerksamer Zuhörer, der ganz fein reagiert.“ Beglückend war für das Zweiergespann auch die Erfahrung auf einigen Stücken mit einem so sensiblen Perkussionisten wie Stefan Noelle zusammenzuarbeiten bzw. einem Streichquartett aus erfahrenen Mitgliedern des Münchener Gärtnerplatztheaters.
Eine Band, in der zwei Musikerinnen die Aufgabe von Bandleitung und Komposition teilen ist eine besondere Erfahrung, die manches komplizierter, manches leichter macht. „Schwalbentanz“ etwa legte Andrea fertig vor, doch Carolyn fand für die Harmoniefolge zur Freude beider eine schönere Melodie. „Es klingt nicht nach mir, nicht nach ihr, sondern nach etwas Gemeinsamen. Das geht nicht mit jedem“, meint Andrea, die übrigens oft auch die Texte zu den Songs schreibt, die sich aber meist erst nach der Musik aus der Stimmung herauskristallisieren.
Die Leichtigkeit, mit der Carolyn und Andrea Träume ins Positive wenden, verleugnet nicht, dass manche der zugrundeliegenden Erfahrungen, die die Kompositionen inspirierten, alles andere als leichtgewichtig waren. „Polarstern“ zum Beispiel, zu dem noch Hermann Breuer das Streicher-Arrangement schrieb, skizzierte Carolyn Breuer als Abschiedsgeschenk für Roger Willemsen. Musik hat die Kraft sich wie ein Balsam auf die Seele zu legen und Unaussprechliches sagbar zu machen. Einmal baute sich ein Kollege vor dem großen Saxophonisten Lester Young auf und spielte die schwierigsten Virtuosenpassagen rauf auf und runter. Young hörte eine Weile zu und meinte nur: „Yeah… but can you tell me a story?“ Andrea und Carolyn können Geschichten erzählen, die tief berühren, doch zugleich der Seele Flügel verleihen.
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VÖ: 14.04.2023