Christoph Stiefel Full Tree
Die Urbarmachung des Lebens für die Musik und ein Bekenntnis zur Lust am Dasein. Christoph Stiefel selbst lässt sich von der Wucht, Leidenschaft und Fabulierfreue seiner Mitmusiker voll mitreißen.
Wenn sich ein Portal öffnet, dann soll man eintreten. Auf „Full Tree“, dem neuen Quintett und gleichnamigen Album des schweizerischen Komponisten, Pianisten und Bandleaders Christoph Stiefel, öffnen sich vom ersten Augenblick an alle Pforten, Fenster und Luken, um zur Teilhabe einzuladen. Egal, wo man das Album hört, durchweht ein großer, wohltuender Luftzug den Raum und bläst die mentale Enge der Isolation aus den zurückliegenden Jahren hinfort. „Full Tree“ ist ein aus der Fülle des Lebens geschöpftes Bekenntnis zur Lust am Dasein und nicht zuletzt ein ausgewachsener Baum prallvoll mit süßen Früchten, die Christoph Stiefels jahrzehntelange Arbeit einem neuen Reifegrad entgegen tragen.
Christoph Stiefel ist ein Meister der konzeptionellen Sorgfalt. Die Räume von Komposition, Arrangement und Improvisation stets voll ausschreitend, bereitet er jedes seiner Projekte mit äußerster Sorgfalt vor. Das ist selbstredend auch bei „Full Tree“ der Fall, doch selten klang der Schweizer so verspielt und gelöst wie hier. Das liegt sicher zum einen an der Besetzung. Mit Bastian Stein an Trompete und Flügelhorn, Domenic Landolf an Tenorsaxofon und Bassklarinette, Raffaele Bossard am Bass und Dejan Terzic am Schlagzeug spielt er eigentlich in der klassischsten aller Jazz-Besetzungen, die man seit den Tagen von Bebop und Hardbop kennt. Doch Stiefel gelingt es, diesem Ensemble eine Frische und Flexibilität einzuhauchen, als wäre in dieser Aufstellung noch nie zuvor musiziert worden.
Nun ist der schweizerische Tastenmaler Christoph Stiefel eher als introvertierter Musiker bekannt, der vor allem im Kontext seines langjährigen Inner Language Trios nebst seinen Isorhythmen häufig ruhigere Stimmungen bevorzugt. Diese Welle der Euphorie, die sich vom Blätterwerk seines „Full Tree“ in die Ohren ergießt, findet man bei ihm eher selten. Das fällt umso mehr auf, als er einige der Kompositionen des neuen Albums auch schon im Trio gespielt hat. „Wenn ich die Stücke selbst am Klavier interpretiere, bin ich meistens nicht so der Power-Abdrücker“, bestätigt der Schweizer. „Da neige ich eher zu einer ruhigeren und kontemplativeren Spielweise. Speziell während und nach Corona fiel es mir schwer, diese Energie und diesen Punch die ganze Zeit aufrecht zu halten. Im Quintett habe ich aber für die Aufnahme bewusst versucht, den Musikern so wenig wie möglich Vorgaben zu machen, wie sie spielen sollen. Das heißt vor allem, sich von den eigenen Vorstellungen zu lösen. Für mich als Komponist, Arrangeur und Produzent der ganzen Musik gar nicht so einfach. Aber es hat funktioniert, und plötzlich ging etwas ganz anderes los.“
Natürlich ist Stiefel ein musikalischer Allrounder, der mit allen Wassern gewaschen ist. Er muss keine Vorgaben machen, um trotzdem eine Musik antizipieren zu können, die fünf Instrumente wie eine Big Band klingen lässt. Auch an subtilen Parts herrscht kein Mangel. Aus dem Ineinanderwirken der Stimmen, Impulse und Intentionen ergibt sich auf Grundlage von Stiefels Vorlagen etwas, das viel größer ist als die Summe seiner Einzelteile. Am Anfang des Projekts stand eine Carte Blanche des Zürcher Jazzclubs Moods. Stiefel konnte vier Abende gestalten. Er ließ einige Bands auftreten, die er schon am Laufen hatte, wollte aber auch was Neues ausprobieren. „Ein Septett ist zwar schön, denn damit kann man klingen wie mit einer kleinen Big Band, aber das bringt eben auch die Einschränkungen einer Big Band mit. Viel Interplay und Durchlässigkeit gibt es da nicht. Im Trio wiederum muss ich all die polyphonen Sachen, die ich schreibe, selbst am Klavier umsetzen. Deshalb überlegte ich mir: im Quintett kann ich orchestral klingen, wenn ich will, aber immer noch die Intimität des Trios heraufbeschwören.“
So bestellt Stiefel mit seinem Quintett ganz unterschiedliche Felder. Er wollte sehen, wie weit er mit bestimmten Stimmungen gehen kann. „Lost“, der letzte Track des Albums, wird zum Beispiel von einer viel melancholischeren Stimmung getragen als der Rest der Suite. Man könnte meinen, diese Komposition symbolisiert ein Stückweit jene Situation, die Stiefel hinter sich gelassen hatte, um das Album überhaupt in dieser Weise einzuspielen. Doch aus jedem Ende erwächst ja bekanntlich ein neuer Anfang. Für den Schöpfer der Kompositionen ist „Lost“ eine ganz eigene Reise, welche die Qualitäten der Band nochmal aus einer ganz anderen Perspektive bündelt. Deshalb hat er sie ans Ende des Albums gestellt.
Mit Bastian Stein und Domenic Landolf hat der Pianist bereits in seinem Septett zusammengearbeitet. Er wusste, dass sie gern zusammen spielen und vertraute auf ihre intuitive Erfindungsgabe. Nicht zuletzt wählte er sie wegen ihrer unterschiedlichen Spielhaltungen aus. Stein steht laut Stiefel immer sofort bereit, wenn es um freiere Passagen geht, während Landolf eher zurückhaltend agiert, aber umso mehr aus sich herauskommt, wenn es für ihn passt. In dieser Hinsicht hat sich der Bandleader nach eigenem Bekenntnis von Thelonious Monk inspirieren lassen. Auch Monk suchte immer nach Solisten mit völlig anderen Spielweisen als er selbst. In der Rhythmusgruppe entschied er sich für zwei erfahrene Musiker, mit denen er nicht bereits im Trio spielt. Da er schon mehrere der vorliegenden Stücke im Trio interpretiert, fand er es interessanter, sie mal mit neuen Leuten aus einer anderen Perspektive kennenzulernen und ihnen entsprechend neue Facetten abzugewinnen.
Christoph Stiefel selbst lässt sich von der Wucht, Leidenschaft und Fabulierfreue seiner Mitmusiker voll mitreißen. Während er in Live-Situationen stets Vollgas gibt, agiert er im Studio normalerweise doch vorsichtiger. „Bei Konzerten komme ich in einen Flow, wo ich nichts mehr überlege, sondern einfach spiele und meiner Inspiration folge, ohne Rücksicht auf das Risiko, dass auf diese Art auch mal was schiefgehen kann. Im Studio ohne Publikum ist es viel schwieriger, in einen solchen Flow zu kommen. Bei dieser Einspielung war ich aber offen und bereit für alles, sodass ich viel besser loslassen und mich einfach gehen lassen konnte. Ich fühle mich eigentlich immer als Derselbe. Ich habe immer dieselbe Freude, aber auch dieselben Probleme. Die Stücke selbst geben ja stets einen Rahmen vor. Wenn ich aber wie hier eine Situation habe, die es mir ermöglicht, freier zu spielen, dann spiele ich freier.“
So einfach kann das sein, und so schön kann es klingen. „Full Tree“ ist die Urbarmachung des Lebens für die Musik. Christoph Stiefel greift mit allen zehn Fingern und den verlängerten Armen seiner Mitmusiker auf die pralle Vielfalt des Lebens zu, saugt das Leben in sich hinein und trägt seine Musik ins Leben zurück. Ein organisches Geben und Nehmen voller Demut, Dankbarkeit und Lust auf alles, was da noch kommen mag.
nwog Rec / nwog056 / LC 77779 / 4015698818505 / Vertrieb: Indigo
VÖ: 03.11.2023
LIVE
Christoph Stiefel Full Tree
25.01.2024 CH-Affoltern am Albis, La Marotte
26.01.2024 CH- Stäfa, Kulturkarussell Rössli
29.01.2024 CH- Baden, Rest Isebähnli
30.01.2024 Marburg (D), Cavete
31.01.2024 Köln, loft
02.02.2024 Berlin, Zig Zag Jazz Club
03.02.2024 LI-Eschen, Tangente
13.03.2024 CH-Frauenfeld, Jazz Now, Eisenwerk
14.03.2424 Zürich, Villa Irniger
15.03.2024 CH-Olten, Vario Bar
16.03.2024 CH-Marly, Triton Ateliers – Upjazz
17.03.2024 CH-Luzern, Grand Casino, Casineum
Bastian Stein: tp/flh
Domenic Landolf: ts/bcl
Christoph Stiefel: piano, composition
Raffaele Bossard: bass
Michael Cina: drums