Fynn Großmann – Pushing The Limits
Das Maß aller Dinge muss verschoben werden. Zumindest was die Oboe betrifft. Bislang kam man nicht an Paul McCandless vorbei, wenn es um die ewige Ente aus „Peter und der Wolf“ im Jazz geht. Der Oboist der amerikanischen Kammer-Jazz-Formation Oregon hat den scheinbar ewigen Maßstab gesetzt, an dem sich alle Jazz-Oboisten seit mehr als einem halben Jahrhundert auszurichten hatten. Mit dem Hannoveraner Fynn Großmann erhält die Jazz-Oboe allerdings eine neue, faszinierende und bisher unerreichte Dimension.
Doch beginnen wir mit dem Anfang. 2019 veröffentlichte Fynn Großmann mit seinem Quintett das Album „Halbwahrheiten“. Die Presse überschlug sich angesichts der unbeschreiblichen Leichtigkeit der Komplexität auf diesem Debüt. Konzept und Spielwut tanzten ein unbeschwertes Pas de Deux, die Bläser Fynn Großmann und Phillip Dornbusch, Pianist Marko Djurdjevic, Bassistin Clara Däubler sowie Drummer Johanne Metzger forderten sich gegenseitig heraus, ohne einander in die Parade zu fahren. Niemand ahnte vor drei Jahren, warum Großmann dieses Wunderwerk „Halbwahrheiten“ nannte. Doch erst jetzt, auf seinem neuen Album „Pushing The Limits“ offenbart sich die ganze Wahrheit. Die fünf Mitglieder des Quintetts sind nicht nur individuell und kollektiv gereift, das Spiel von Komplexität und Leichtigkeit wird nicht nur ungleich subtiler aufgesetzt, Komposition und Improvisation eröffnen nicht nur viel mehr undefinierte Zwischenräume – nein, was auf „Halbwahrheiten“ in seiner wechselseitigen Durchdringung aller denkbaren musikalischen und außermusikalischen Parameter verblüffte, wird auf diesem zweiten Album auf ein Level der Vollkommenheit gehievt, das nicht einmal die Beteiligten selbst für möglich gehalten hätten.
Um Missverständnissen vorzubeugen: „Halbwahrheiten“ hat nichts von seiner Gültigkeit verloren, aber es ist eben nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit wird jetzt auf „Pushing The Limits“ erzählt. Auf dem neuen Album ist kaum zu überhören, dass alle fünf Mitglieder seit dem Einstand des Quintetts ihrerseits Erfahrungen als Bandleader und Komponisten sammelten. Fynn Großmann spielt die erstaunliche Entwicklung seines Quintetts mit dem ihm eigenen Understatement runter. „Wir sind alle älter geworden und haben unsere Suche nach dem, was wir wirklich im Leben wollen, intensiviert. Bei ‚Halbwahrheiten’ hatte ich das Gefühl, Leute beeindrucken zu müssen. Bei ‚Pushing The Limits’ ist mir dieser Aspekt egal. Ich schreibe, was ich selbst gern hören will, treffe lieber melodische Aussagen und rücke unser Miteinader viel mehr in den Vordergrund.“
Was Fynn Großmann hier aus seiner Perspektive beschreibt, läuft auf eine Akzeptanz der magischen Selbstverständlichkeit hinaus. Die Musik passiert einfach, ohne hinterfragt werden zu müssen. Sie ist da wie ein Fluss, ein Berg oder ein Wald. Die Stücke beeindrucken nicht, weil sie gemacht worden sind, sondern weil sie einfach da sind. Dabei entstanden die Songs auf ganz unterschiedliche Weise. Allen gemein ist die Essenz dessen, was übrig bleibt, wenn man alles Überflüssige weglässt. Großmann und Co spielen mit unterschiedlichen Dichtegraden. In manchen Momenten entstehen Konvolute von Intensität, in anderen meint man, nichts als Licht zu hören. Die Verantwortung dafür delegiert Großmann an den Drummer Johannes Metzger. „Ich spiele so gern mit Johannes zusammen, weil er es stets schafft, die Melodien auf den Ebenen von Dichte, Stilistik und Energie zu pushen. Er ist wie ein Regisseur. Wenn ich das Drehbuch geschrieben habe, kommt Johannes als Regisseur mit ganz eigenen Ideen und macht daraus die Geschichte, die es sein soll.“
Den größten Unterschied macht aber Fynn Großmann selbst. Gab er sich auf „Halbwahrheiten“ noch als Saxofonist, der gelegentlich zur Oboe greift, hat er sich auf „Pushing The Limits“ in einen Oboisten verwandelt, der auch hin und wieder Saxofon spielt. Hand aufs Herz, die Oboe ist ein Instrument, dessen Nervschwelle sehr niedrig sein kann und deshalb entsprechend behutsam eingesetzt und definitiv nicht überstrapaziert werden will. Bis jetzt. Denn Großmann schafft es mit Spielwitz, sportlicher Eleganz und unbändiger Fabulierlust, seinen Hörern einen völlig neuen Zugang zu dem schwer zu spielenden Blasrohr zu gewähren. Es ist keine Übertreibung – so hat man die Oboe noch nie gehört. Großmann befreit das Instrument aus dem Käfig seines eigenen Narrativs, nimmt ihr alles Klagende und lässt es einfach frei fliegen. Zuweilen fragt man sich, ob das wirklich eine Oboe ist oder eher ein Sopransaxofon mit einem besonderen Sound. Von den anderen Mitgliedern des Quintetts wird der Sound der Oboe derart kongenial aufgefangen und eingebettet, dass man in diesem Kontext nie genug von ihr kriegen kann.
Auf „Pushing The Limits“ erleben wir fünf Musikerinnen und Musiker, die nicht nur genau wissen, was sie zu sagen haben, sondern dies auch ganz ehrlich und unverstellt zum Ausdruck bringen. Sie erfinden den Jazz nicht neu, auch wenn sie ihm ein völlig neues Klangverständnis beisteuern. Aber sie erzählen ihre Geschichten eben kollektiv und individuell so, wie nur sie selbst sie erzählen können. Genau deshalb ist es so spannend, erwartungsfrohen Ohres auf diese Grenzerweiterung mitzugehen.
nWog Records nwog 053 / LC 77779 / 0 653415179818 / Vertrieb: Indigo
Digital only VÖ : 24.2.2023