Jürgen Friedrich Large Ensemble – Semi Song
In Zeiten der Krise ist Semi Song ein Glücksfall, denn das Werk erinnert uns daran, dass Kunst auch mal triumphierender Luxus sein darf: Ein großes, ausschweifendes und umfassendes Festival der Sinne.
Es gibt musikalische Werke, die erschließen sich auf Anhieb. Man hört einmal hin und weiß, was man hat. Und es gibt solche, die wecken unmittelbar Neugier, aber sie wollen wieder und wieder gehört werden, bis sie aus der Tiefe ihrer eigenen Mitte heraus immer mehr von sich preisgeben, um sich am Ende in ihrer ganzen überwältigenden Komplexität zu offenbaren. Zu letzteren gehört Jürgen Friedrichs großangelegtes Programm Semi Song, eingespielt von seinem Large Ensemble.
Semi Song ist ein berauschendes Gesamtkunstwerk, welches das Korsett eines normalen Albums – egal ob CD, Vinyl oder Stream – sprengt. Diese Qualität deutet sich schon nach wenigen Takten an. Aber vergessen wir für einen Augenblick den Tonträger, der ja nur ein Medium ist. Es bedarf keiner großen Vorstellungskraft, um den immensen Aufwand an Arbeit zu vergegenwärtigen, der diesem Opus zugrunde liegt. Jürgen Friedrich selbst zieht den Vergleich zu einem Film, in dessen Abspann endlose Reihen von Namen zu sehen sind, die zu so einem Kunstwerk beitragen. Im Fall von Semi Song wäre die Liste jedoch ganz kurz, denn abgesehen von den ausführenden Musikerinnen und Musikern sowie dem aktiv in das musikalische Ergebnis einbezogenen Toningenieur Christian Heck lag die gesamte Arbeit an diesem Mammutprojekt komplett in seiner Hand. Wobei der Vergleich mit dem Film nur teilweise zutreffend ist, denn Semi Song ähnelt eher einer jener epischen TV-Serien der Gegenwart, deren narrative Tiefenschärfe oft weit über das Format eines singulären Films hinausgeht. Jürgen Friedrich beschreibt mit jedem Stück auf dem Album eine in sich geschlossene Geschichte, die trotzdem in einem unmittelbaren Zusammenhang mit allen anderen Stücken des Programms steht.
Der Plot und die Dramaturgie all dieser Stücke sind absolut unvorhersehbar. Am Anfang einer Komposition wird niemals verraten, wohin die Reise geht. Unterschiedlichste Komponenten von Farbigkeit, Dichte, Dynamik und Melodik suchen sich in jedem Stück neue Wege. Am Ende eines jeden Tracks wird stets ein Ausgleich aller gestalterischen Elemente angestrebt, wie sich auch am Ende der gesamten Suite ein Kreis schließt. Nach gut 73 Minuten endet Semi Song genau in dem Moment, in dem alles gesagt ist, was zu sagen war. Das Mysterium der Überraschung wird so weit ausgeschöpft, dass es immer wieder greift, selbst wenn der wiederholte Genuss der Musik längst die Grenze vom Neuen zum Vertrauten überschritten hat. Jürgen Friedrich denkt in dieser Hinsicht sinfonisch, denn je öfter man sich auf die Musik eingelassen hat, desto faszinierender wird ihre schier grenzenlose Gestaltungsvielfalt. Genau genommen ist Semi Song ein musikalischer Palimpsest, bei dem sich immer wieder neue Schichten der Wahrnehmung entblättern.
Das Jürgen Friedrich Large Ensemble ist ein Orchester der Solisten. Obwohl die Sprache des Komponisten – der hier nicht selbst in die Tasten greift, sondern das Klavier Pablo Held überlässt – absolut im Hier und Jetzt verankert ist, folgt er doch den Tugenden klassischer Großformationen wie des Globe Unity Orchestras oder des Jazz Composers Orchestras. Anders als bei vielen vergleichbaren Formationen der Gegenwart lässt Friedrich den beteiligten Solisten größtmögliche Spielräume. Wenn wir bei dem Bild eines Filmemachers bleiben wollen, liefert Friedrich Skript, Kulissen und Kostüme, überlässt es aber den Akteuren, innerhalb des vorgegebenen Rahmes den Plot nach ihrem Gusto mit Leben auszufüllen. Anders gesagt, der jeweilige Solist ist situativ der Bandleader.
Die Besetzung liest sich wie ein Who is Who des deutschen Jazz, das von Pablo Held bis Uli Kempendorff, Steffen Schorn bis Bastian Stein, Nils Wogram bis Sebastian Gille, von Shannon Barnett über John-Dennis Renken bis Fabian Arends reicht, um nur Einige zu nennen. Ein solches Aufgebot an eigenverantwortlicher Kreativität will der Komponist mit dem größtmöglichen Wirkungsgrad ans Limit seiner Möglichkeiten führen. „Die Soli sollen auch im Kontext des Large Ensembles woanders hingehen können, wenn sie woanders hingehen wollen“, postuliert Klangregisseur Friedrich. „Die Spieler sollen nicht denken, sie hätten die Aufgabe, eine bestimmte Funktion innerhalb der musikalischen Dramaturgie umzusetzen. Das wäre mir schon zu viel der Vorgaben. Alle Beteiligten sollen sich in dieser großen Formation fühlen, als würden sie mit ihrem eigenen Quartett auf der Bühne stehen.“
Aus diesem Spannungsverhältnis zwischen subtilen Ensemble-Bögen und expressiven solistischen Leistungen ergibt sich eine ungeheure Vehemenz jedes einzelnen Augenblicks. Friedrich setzte an bestimmten Punkten bewusst auf ein Vakuum, das er mit Führungslosigkeit umschreibt, um seine Mitspieler aus der Reserve zu locken. Das geht natürlich nur auf Grundlage größtmöglichen gegenseitigen Vertrauens zwischen dem Leader und den Akteuren. Jürgen Friedrich denkt nicht in Instrumenten oder grundsätzlichen Klangfarben, sondern nur in Personen und Charakteren. Welchen Beitrag kann der jeweilige Musiker oder die jeweilige Musikerin leisten, welche Konstellationen und Kontraste ergeben sich aus den Persönlichkeiten seiner Crew? „Wenn ich das Gefühl habe, eine Person könnte in einem bestimmten Umfeld gern ein Solo spielen, dann frage ich sie. Das passiert völlig unabhängig davon, ob es sich dabei um eine Trompete, eine Posaune oder den Kontrabass handelt. Es geht einzig um die Persönlichkeiten. Die Instrumentenfarben sind dabei schon fast egal.“
Jürgen Friedrichs Large Ensemble ist keine Big Band, sondern ein Orchester. Es gibt weder die typischen Bläsersalven noch einen omnipräsenten Rhythmusteppich. Friedrich schöpft das komplette Spektrum eines Orchesters aus und genehmigt sich auch die Zeit, die dazu erforderlich ist. In Zeiten der Krise ist Semi Song ein Glücksfall, denn das Werk erinnert uns daran, dass Kunst – mag sie auch noch so sehr dem Leben abgelauscht sein – auch mal triumphierender Luxus sein darf. Ein Luxus, der keinen Anspruch auf Exklusivität erhebt, sondern sich einfach nur als das offenbart, was es ist: ein großes, ausschweifendes und umfassendes Festival der Sinne.
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