Julie Campiche Quartet & Capella Jenensis – Transitions

Ein musikalisches Juwel, das je nach Hörwinkel ganz unterschiedlich schimmert und ein Triumph der provokanten Schönheit. Julie Campiche führt zwei eigenständige Einheiten zu einer organischen Osmose und die Grenzen zwischen Barockmusik und Jazz verwischen.

 

Jedes neue Album, egal von wem, ist ein Geschenk. Doch wie es mit Geschenken manchmal so ist, verschwinden manche sofort im Regal, um fortan Staub anzusetzen, andere hingegen nimmt man immer wieder zur Hand, weil sie so schön und ungewöhnlich sind, dass man sich immer mit ihnen umgeben möchte. „Transitions“, eine Kollaboration des Julie Campiche Quartets mit der Capella Jenensis ist ein solches Geschenk, ein musikalisches Juwel, das je nach Hörwinkel ganz unterschiedlich schimmert.

Die schweizerische Harfenistin Julie Campiche sprengt mit ihrer Band (Saxofonist Leo Fumagalli, Bassist Manu Hagmann und Drummer Clemens Kuratle, alle arbeiten auch mit elektronischen Effekten) alle Limits. Kammermusikalisches wird mit Elektronischem konfrontiert, Introspektives mit fetten Grooves, Vertrautes aus Jazz und Klassik mit absolut Unerwartetem aus allen nur denkbaren Bereichen. Es gibt nichts, das es nicht gibt, solange es originär, interessant und packend ist. Der Treibstoff des Julie Campiche Quartets ist die unlimitierte Neugier auf Neues und Unentdecktes.

Und jetzt das im Oktett eingespielte neue Album „Transitions“. Wer die Musik von Julie Campiche von den letzten beiden Alben bereits zu kennen meint, wird eines Besseren belehrt. Das Quartett macht nicht einfach da weiter, wo es mit der mystischen Reise auf ihrer letzten CD „You Matter“ aufgehört hat, sondern trifft auf das thüringische Barock-Ensemble Capella Jenensis mit Blockflötistin Annegret Dudek, Gertrud Ohse und Tillmann Steinhöfel an den Violen da gamba sowie Daniel Trumbull am Cembalo. Die Harfenistin präsentiert neue Versionen zweier Stücke, die bereits auf „You Matter“ zu hören waren, greift auf zwei Stücke des franko-flämischen Renaissance-Komponisten Jacques Arcadelt (1507-1568) und des französischen Gambenvirtuosen Marin Marais (1656-1728) zurück und steuert auch zwei neue Songs aus eigener Feder bei. Der Impuls für diese Zusammenarbeit ging von der Capella Jenensis aus, weil die Thüringer ebenso erpicht auf Neues sind wie die Schweizerin. Julie Campiche macht keinen Hehl daraus, dass sie mit diesem Projekt ins kalte Wasser sprang. „Ich hatte keine Erfahrung mit Barockinstrumenten, liebe es aber, mich neuen Herausforderungen zu stellen. Jonathan Keren, ein erfahrener Komponist, half mir herauszufinden, was bei den Arrangements funktionieren wird und was nicht. Die Grenzen zwischen Barockmusik und Jazz verwischen.“

Im Gegensatz zur mystischen Dichte von „You Matter“ sind die Songs auf „Transitions“ überraschend luft- und lichtdurchflutet. Der Komponistin geht es um Räume, die sie mit acht Musikern viel besser besetzen und definieren kann als im Quartett. Doch obwohl man jeden Sound glasklar hören kann, ist es im Zusammenspiel fast nebensächlich, welcher Klang auf welchem konkreten Instrument basiert oder mit welcher Zeitebene konnotiert ist, weil die Musik vor allem als großes Ganzes funktioniert. Man begibt sich in einen schönen, blühenden Garten und atmet staunend durch. „Dieses Album wurde im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks in Köln aufgenommen“, erinnert sich Drummer Clemens Kuratle. „Alle waren im selben Raum, woraus sich die Transparenz des neuen Albums ergibt. Wir hatten gar keine andere Wahl, als uns gegenseitig Platz zu lassen, sonst hätte es in diesem Raum gar nicht geklappt.“

Nun ist „Transitions“ ja nicht das erste Album, das auf einer Synthese von Jazz und Barockmusik beruht. Doch Marin Marais‘ Komposition „Musette“ ist ein treffliches Beispiel, wie Julie Campiche abseits ausgetretener Klassik-Jazz-Fusionen ihrem eigenen Navi folgt. Ihr Hybrid läuft weder auf Jazz plus Barockmusik hinaus noch auf den kleinsten gemeinsamen Nenner beider Komponenten. Barockmusik ist Musik des 17./18. Jahrhunderts, Jazz ist ein Idiom des 20. Jahrhunderts, aber Campiche und Co. kommen mit ihrer speziellen Kombination genau im 21. Jahrhundert an. „Es wird oft unterschätzt, dass Barockmusik auch extrem rhythmisch ist“, so Kuratle, und der muss es ja als Drummer wissen. „Diese Rhythmik schafft Bezugspunkte. Die Capella Jenensis spielt viel Musik, die für Tanz geschrieben wurde, und diese ist dem Jazz-Gestus viel näher als Musik aus Klassik und Romantik. Das hilft schon. Deshalb war es auch recht einfach, mit diesem Ensemble zusammenzuspielen.“

Julie Campiche fokussiert sich nie nur auf ein, zwei oder drei musikalische Richtungen, die sie jeweils zusammenführt. Das fände sie nach eigenem Bekennen langweilig. Stattdessen ist sie nach allen Seiten offen. Der Groove und die elektronischen Extras auf „Transitions“ haben zuweilen viel mehr mit HipHop oder TripHop gemein als mit der landläufigen Vorstellung von Jazz. Viele subliminale Komponenten lassen sich auf dem Notenblatt gar nicht vordergründig festhalten. Julie Campiches Einflüsse reichen von J.S. Bach bis CocoRosie, von Arvo Pärt bis Hania Rani, von The Doors bis Keith Jarrett. Für die passionierte Multitaskerin sind musikalische Genres sekundär, entscheidend sind ganz andere Werte. „Dinge, die einfach klingen, müssen nicht immer einfach sein. Ich mag Musik, die nicht für intellektuelle Eliten gemacht ist, sondern mir Kraft gibt, Integrität vermittelt und trotzdem demütig wirkt. Musik, die etwas zu sagen hat. Man hört, ob Musiker wissen, warum sie etwas spielen. Ich habe immer eine Geschichte im Kopf, wenn ich musiziere. Es muss nicht jeder wissen, was das für eine Geschichte ist, aber für mich selbst ist es wichtig, zu wissen, was ich erzähle.“

Nun ist es gar nicht so selbstverständlich, dass eine Jazzband mit einem klassikerprobten Ensemble stufenfrei kommunizieren kann. Im Gegenteil, oft wirken Jazzbands mit Streichern aufgesetzt, oder Jazzmusiker mit Orchester in ihrer improvisatorischen Freiheit arg eingeschränkt. Julie Campiche führt aber zwei eigenständige Einheiten zu einer organischen Osmose. Wie das geht? Einmal mehr geben die menschlichen Aspekte den Ausschlag. Aus unterschiedlichen Richtungen aufeinander zugehend, ist die Grundhaltung der beiden auf den ersten Blick sehr gegensätzlichen Quartette gar nicht so unterschiedlich. „Die Capella Jenensis ist ein sehr initiatives Ensemble“, erinnert sich Kuratle, „das bewusst Begegnungen mit anderer Musik sucht. Die Zusammenarbeit erfolgte stets auf Augenhöhe. Mit Klassikensembles wird das Material oft runterdirigiert, und das war’s. Mit der Capella Jenensis war es ganz anders. Wir haben das Material zwei Tage lang sorgfältig geprobt, und die Mitglieder der Capella haben sich aktiv in den kreativen Prozess eingebracht. Julie hat alles geschrieben, aber vom Moment des Probenbeginns an war es ein aktives Miteinander aller Beteiligten.“

Für Julie Campiche sind die Noten kein Gefängnis, sondern eine Vorlage, wie sie betont. In einer Konstellation wie „Transitions“ erwartet sie von allen Protagonisten ihren persönlichen Beitrag zum finalen Ergebnis. Das Risiko liegt nicht bei der Projektleiterin allein, sondern wird von allen acht Mitwirkenden gemeinsam geschultert. Alle Beteiligten seien aus ihrer Komfort-Zone ausgebrochen und hätten dazu beigetragen, dass das Oktett seine ureigene Mitte definieren kann. Julie Campiche selbst ist in diesem Prozess ja viel mehr als nur Komponistin und Bandleaderin. Als Jazz-Harfenistin bewegt sich per se ausnahmslos außerhalb jeder Komfortzone.

„Transitions“ ist ein Triumph der provokanten Schönheit. Man muss von diesem Album nur 30 Sekunden hören, um zu wissen, dass man es für die nächsten 30 Jahre lieben wird. Aber so ist das eben mit besonderen Geschenken. Sie wollen erkannt werden und uns noch lange begleiten.

www.juliecampiche.com

Nwog records/ nwog 63 / LC 77779 / 4015698570076 / Vertrieb: Indigo

VÖ: 6.12.2024

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