Potsa Lotsa XL – Amoeba’s Dance
Silke Eberhard schlägt ein völlig neues Kapitel in ihrer musikalischen Laufbahn ein.
Auch wenn sie keinerlei Zugeständnisse an Zeitgeschmack oder Hörgewohnheiten macht, ist ‚Amoeba’s Dance‘ ihr bislang zugänglichstes Album mit Potsa Lotsa XL.
Welcher intelligible Mehrzeller könnte sich schon rühmen, jemals eine Amöbe mit eigenen Augen gesehen zu haben? Amöben sind einzellige Formwandler, die, um es mit dem irischen Autor Flann O’Brien zu sagen, etwas kleiner als unsichtbar sind. Wir wissen, dass es sie gibt. Doch wenn man sie schon nicht zu sehen vermag, so kann man ihnen jetzt zumindest beim Tanzen zuhören. Die Berliner Saxofonistin, Komponistin und Bandleaderin Silke Eberhard macht es mit ihrer Langzeitformation Potsa Lotsa XL auf ihrem neuen Album „Amoeba’s Dance“ möglich.
Auch wenn Silke Eberhard keinerlei Zugeständnisse an Zeitgeschmack oder Hörgewohnheiten macht, ist „Amoeba’s Dance“ ihr bislang zugänglichstes Album. Das mag vielleicht am vertonten Sujet liegen. Die nicht ganz eingängigen Songtitel wie „Dactylopodial“ oder „Orthotactic“ beziehen sich tatsächlich auf diverse Erscheinungsformen der Amöbe. In Vorbereitung auf ihr neues Album hat sich die Künstlerin einen ganzen Monat lang in die Einsamkeit des kanadischen Banff Center for Arts and Creativity zwischen Berge, Elche und Schnee zurückgezogen und sich ausgiebig mit den winzigen Gallerttierchen beschäftigt. Aus dieser anfangs eher intellektuellen Beschäftigung ist eine intensive Beziehung entstanden, die sie in ihren ebenso kurzen wie kurzweiligen Kompositionen hörbar macht.
Das sehende Ohr begibt sich unweigerlich in einen wimmelnden Mikrokosmos, der von einer Vielzahl unglaublich sympathischer und liebenswerter Wesen bevölkert ist, welche eine völlig andere Weltsicht haben als wir selbst. Sowie man sich auf diese Welt einlässt, beginnt man zu schrumpfen und auch Silke Eberhards Musik mit anderen Ohren zu hören. „Ich hatte eine Grundidee, dass sich Amöben fortbewegen, indem sie ihre Gestalt verändern“, beschreibt Silke Eberhard ihre Intention. „Ich baute mir verschiedene kleine Systeme, die ich mir wie durch ein Mikroskop anschaute. Was passiert, wenn ich immer tiefer ins Detail gehe und die Töne dann wieder so lange auseinanderziehe, bis ich damit zufrieden bin? Es war eine Forschung in Tönen. So sind in diesem Monat 18 Skizzen entstanden, die ich dann später weiter ausformuliert habe.“
Klingt komplex, war aber ein großer Spaß. Zufrieden war Silke Eberhard, wenn es ihr gefiel, sprich, wenn der Wimmelzoo in Bewegung geriet. Der Gesamtsound ihrer Band ist sehr kleinteilig und organisch. Vieles war auf dem Papier ausformuliert, und doch begann die eigentliche Formwandlung erst im Zusammenspiel mit den Musikern. Die kurzen Stücke im kollektiven Voranschreiten verändern ebenso ihre Form wie ihre nanozoologischen Vorlagen. So gelingt ihr das seltene Kunststück einer perfekten Balance zwischen den größtmöglichen Freiräumen für alle an dem Album Beteiligten und dem, was von sich aus innerhalb der besagten Systeme passiert. Gleich mit den ersten Tönen des Openers öffnet sich ein Vorhang, und man wird unweigerlich ins Geschehen hineingezogen. Die mikroskopische Nähe des Sujets evoziert zugleich eine überraschende Nahbarkeit im Klang. Organische Plots entfalten sich wie Kurzfilme aus einem Floh- oder in diesem Falle Amöbenzirkus. Jedes Stück hat das Eigenleben eines autarken Organismus, und doch ergeben all diese Organismen ein Gewimmel, in denen sich jedes Einzelne wieder abbildet und umgekehrt. Jeder Part leitet seine Rechtfertigung durch seinen Platz in der Gesamtfolge ab.
Dieses Gewimmel basiert zu guten Teilen auf einem Allstar-Cast der Berliner Jazz-Avantgarde, den man in dieser Form selten gesehen hat. Außer Silke Eberhard an Altsaxofon und Sopranflöte tummeln sich hier Klarinettist Jürgen Kupke, Tenorsaxofonist und Klarinettist Patrick Braun, Trompeter Nikolaus Neuser, Posaunist Gerhard Gschlößl, Cellist Johannes Fink, Vibrafonistin und Perkussionistin Taiko Saito, Pianist Antonis Antissegos, Bassist Igor Spallati und Drummer Kay Lübke. Zu jedem dieser Kleintierfreunde und -freundinnen finden sich unzählige Superlative, die wir uns hier schenken können, weil sie hier unter Silke Eberhards Leitung zu einer Menagerie zusammenwachsen, bei der jede Einzelleistung zugleich ein Ensembleausdruck ist. Nicht zuletzt auf Grundlage dieses Ineinandergreifens interner struktureller und externer individueller Komponenten klingen selbst die improvisierten Parts nicht wie kollektive oder persönliche Alleingänge, sondern fügen sich ganz selbstverständlich in die organische Evolution der Dinge. „Das ganze Album funktioniert wie eine lange Suite“, rekapituliert Silke Eberhard. „Ich habe die einzelnen Stücke hin und her platziert und mir dabei immer vorgestellt, wie sich ein Teil zum nächsten bewegen würde oder welche Bewegung sich innerhalb des Teils vollzieht. Dabei habe ich auch schon überlegt, wer das so spielen könnte, dass meine Vorstellungen am besten transportiert werden. Vieles ist regelrecht magisch entstanden. Manche Stücke scheinen die Idee eines vorherigen Stückes aufzugreifen, dabei wurden sie zu ganz unterschiedlichen Zeiten eingespielt. Zuweilen hatte ich regelrecht den Eindruck, dass da eine Art Telepathie zwischen uns entsteht.“
Diese über jedes künstlerische Konzept hinausreichende Telepathie überträgt sich auch unschwer auf den Hörer, egal ob er nun vor seinem geistigen Auge die Amöben tanzen sieht oder nicht. Mit „Amoeba’s Dance“ schlägt Silke Eberhard ein völlig neues Kapitel in ihrer musikalischen Laufbahn ein. Man könnte es auch so beschreiben, dass sie sich nicht zuletzt durch ihre intensive Beschäftigung mit Charles Mingus, Ornette Coleman, Eric Dolphy, Henry Threadgill und anderen formativen Größen der Jazzgeschichte ihr ureigenes Vokabular geschaffen hat, das sie nun in einem neuen Wörterbuch festhält und von nun an weiter ausformulieren wird.
Kleine Welt ganz groß! Mehr als von irgendeinem anderen Projekt, das Silke Eberhard bislang initiiert hat oder an dem sie beteiligt war, kann man von dieser Einspielung sagen, dass sie hochgradig und vorbehaltlos unterhaltsam ist. „Amoeba’s Dance“ ist ein Jazzalbum zum Liebhaben.
Trouble In The East Records / TITE-REC 044 / LC 50472 / 0709591094879 /
Vertrieb: https://troubleintheeastrecords.bandcamp.com/ https://silkeeberhard.com/cds/
VÖ: 30.5.2025