Tamara Lukasheva & INSO Lviv – Anima

Ein Statement der Liebe und Schönheit, das die Realität nicht ausblendet. Ein Ventil, um sich von der Wirklichkeit für ein paar Momente zu erholen und neue Kraft im Schönen zu sammeln.

 

„Ich will diese Lieder weder mit Wut noch mit Hass oder Aggression singen, sondern etwas Tröstliches geben. Ich will uns in den Zustand der Menschlichkeit zurückführen“ (Tamara Lukasheva)

Musik kann mehr! Musik kann stärker sein als jede Waffe. Die Protest-Song-Kultur der amerikanischen 68er Bewegung trug wesentlich zum Ende des Vietnamkrieg bei, Marvin Gayes „What’s Going On“ trug das amerikanische Civil Rights Movement in den familiären Alltag, und die sogenannte Singende Revolution, bei der in Estland, Lettland und Litauen Millionen Menschen auf die Straßen gingen und einfach sangen, befreite das Baltikum Anfang der Neunziger von der Sowjet-Herrschaft. Von derselben historischen Dimension und poetischen Durchschlagskraft ist „Anima“ von der deutsch-ukrainischen Sängerin, Komponistin und Arrangeurin Tamara Lukasheva. Diese mit dem International Symphony Orchester (INSO) Lviv und dem Trompeter Matthias Schriefl eingespielte Suite zeugt von einer unbeschreiblichen Lebens- und Überlebenskraft, die man in der jüngeren Musikgeschichte in dieser Intensität selten gehört hat. Tamara Lukasheva bringt mit ihrer Stimme eine Kraft auf den Punkt, die in der Ukraine und ganz Europa Millionen Menschen genauso fühlen, aber niemals auf diese Weise zum Ausdruck bringen könnten.

Tamara Lukasheva wurde von klein auf im Elternhaus von Musik umgeben. Ihr Vater kam vom Jazz, ihre Mutter aus der Klassik. In Odessa absolvierte sie ein klassisches Klavierstudium und beschäftigte sich ausgiebig mit den Partituren klassischer Sinfonik. 2010 zog sie nach Köln um und wandte sich dem Jazz zu. Seither arbeitete sie mit dem Bujazzo und der WDR Big Band, mit Kollegen wie Matthias Schriefl, Hans Lüdemann und Markus Stockhausen, und ist auch als Komponistin und Pianistin aktiv. Besonders liebt sie es, Gedichte unterschiedlichster Herkunft zu vertonen. Mit all ihrer gebündelten musikalischen Erfahrung auf diesen verschiedenen Gebieten begibt sie sich auf „Anima“ auf ein neues musikalisches Level. Denn hier geht es eben über die Musik hinaus um eine künstlerische Teilhabe am Weltgeschehen, die nicht nur reflektieren, sondern etwas in Bewegung setzen und verändern will.

Anima heißt Seele. Tamara Lukasheva singt sich von der Seele, was sie bewegt. Sie wehrt sich aber dagegen, dass Musik in schweren Zeiten auch immer schwermütig sein muss. Wie eine zarte Blume, die sich durch den Asphalt stemmt, will sie mit ihren Liedern und Interpretationen ein poetisches Gegengewicht zu all den Grausamkeiten auf der Welt, speziell durch die russische Aggression in ihrer Heimat, setzen. Ein Statement der Liebe und Schönheit, das einerseits die Realität nicht ausblendet und andererseits doch auch ein Ventil bietet, um sich von der Wirklichkeit für ein paar Momente zu erholen und neue Kraft im Schönen zu sammeln.

Schon vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine trug sich die engagierte Multitaskerin mit dem Wunsch, ein Projekt mit einem großen Orchester umzusetzen, um zu sagen, was sie zu sagen hat. Manche Lieder haben einen historischen Hintergrund, andere sind sehr persönlich. Ein Teil der Texte stammt aus fremder Feder wie Theodor Fontane, Clemens Brentano oder Tonya Kornuta, vieles ist von Tamara Lukasheva selbst. Alle Songs verbindet ein persönliches Anliegen. „Ich will diese Lieder weder mit Wut noch mit Hass oder Aggression singen, sondern etwas Tröstliches geben. Ich will uns in den Zustand der Menschlichkeit zurückführen. Als Mensch gelingt es mir in der Öffentlichkeit nicht immer, meine Wut zurückzuhalten, aber in meinen Liedern kann ich diese Menschlichkeit bewahren.“

Die Lieder auf „Anima“ zeugen nicht zuletzt deshalb von einer zutiefst empfundenen Menschlichkeit, weil sie in unterschiedlichen Sprachen vorgetragen werden und diverse Epochen und Gedankenfelder umspannen. Der Magie ihrer Stimme ist es zu verdanken, dass es beim Hören kaum eine Rolle spielt, in welcher Sprache Tamara Lukasheva jeweils singt. Sprachen und Worte empfindet sie als Hilfswerke, ihre eigentliche Botschaft erwächst aus einem viel tiefer sitzenden Bedürfnis. Die Deutsch-Ukrainerin ist sich ihrer Verantwortung als Künstlerin bewusst. Es ist ihr wichtig, sich immer wieder zu erinnern, dass sie nicht machtlos ist. Sie ist diejenige, die all diese unterschiedlichen Lieder kraft ihres künstlerischen und humanistischen Selbstverständnisses bündelt und zu einer starken Aussage führt. Sie selbst hat all diese Songs instrumentiert und arrangiert. Bis auf ihre eigenen und die Improvisationen Matthias Schriefls ist die gesamte Musik notiert. Eine Entscheidung für oder gegen Jazz, Chanson, Folklore oder klassische Musik hat die Künstlerin bewusst vermieden. Genres haben ihr noch nie etwas bedeutet. „Anima“ ist auch kein Third Stream im Sinne Gunter Schullers, also keine Kombination von Jazz und Klassik. So lapidar es im ersten Moment klingen mag, so fundamental ist die Erkenntnis: „Anima“ ist, was es ist. Man muss es hören, um es zu erfassen.

Das Orchester ohne Klavier und Rhythmusgruppe verleiht Tamara Lukashevas Liedern Wucht und Vehemenz, die dem Anlass angemessen sind. Zu dieser ungehemmten Ausdruckskraft trägt sicher auch die Tatsache bei, dass die Aufnahmen im Oktober 2023 während des Krieges in Lviv stattfanden. Das Orchester besteht zum größten Teil aus sehr jungen Musikerinnen. Viele von ihnen haben durch den Krieg selbst traumatische Erfahrungen durchlebt oder familiäre Verluste erlitten. Auch für die Orchestermitglieder waren die Aufnahmen zu „Anima“ deshalb keine alltägliche Herausforderung. Die Bedingungen der Aufnahmen waren alles andere als einfach, denn da ging es eben nicht nur im übertragenen Sinne, sondern buchstäblich ums Überleben. Tamara Lukasheva war es wichtig, diesen Augenblick für die Ewigkeit festzuhalten.

Als Komponistin, Arrangeurin und Sängerin, vor allem aber als Botschafterin der Menschlichkeit verfolgt Tamara Lukasheva auf „Anima“ einen universalen Ansatz. Zu ihrem Album ließe sich noch viel mehr sagen, doch all das erzählt die Musik selbst viel besser. Am Ende ist Tamara Lukasheva ein Individuum, das auf „Anima“ das Höchstmögliche erreichen will. „Es geht um meine Heimat. Aber es geht auch um Gerechtigkeit, Demokratie, Menschenrechte, Selbstbestimmung und die Werte, die für mich persönlich wichtig sind, und das ganz unabhängig davon, dass ich Ukrainerin bin. Das alles will ich verteidigen. Man kann nicht aufhören zu sein, wer man ist.“

tamaralukasheva.de         tangible-music.de

Tangible Music/TM020/ LC82048/ 0764137108106/

Vertrieb (CD+Digital): www.tangible-music.net/tangiblemusic.bandcamp.com

VÖ: 28.06.2024

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