This Is Pan – Animal Heart
Harmonisch, rhythmisch und melodisch auf bestem Niveau mit allem, was modernen Europäischen Jazz ausmachen kann: stets klug und spannend arrangiert, voller überraschender Wendungen und: Mit der nötigen Portion Elektronik ausgestattet.
„Es war mir nicht von Anfang an klar, dass ‚Animal Heart‘ ein Konzeptalbum werden würde“, sagt Saxophonist, Komponist und Bandleader Matthias Kohler aus Bern (CH). „Aber es ist eines geworden – dank dem Wildschwein-Motiv.“ (siehe Ende dieses Presseinfo)
Begonnen hatte die Arbeit am dritten Album von „This Is Pan“ im Frühling 2019. Kohler setzte sich während einer Artist Residency in Südfrankreich intensiv mit der Musik des späten Mittelalters auseinander, weil die Regeln des Kontrapunkts sowie ihr lustvolles Biegen und Brechen sich für die Gruppe geradezu aufdrängten. Er arbeitete gerade an einem Stück mit einer aufsteigenden Quartmelodie, als plötzlich ein Wappentier vor seinen Augen erschien, schön spätmittelalterlich und gar nicht anachronistisch: das Wildschwein. „La Nuit Du Sanglier“ sollte das Stück also heissen. Und das musikalische Motiv, das ihm den Namen gab, tauchte in der weiteren Kompositionsarbeit immer wieder auf, mal langsamer, mal schneller gespielt, mal unisono, mal im Lead, mal im Bass. „Es kommt nun in fast jedem Stück auf dem Album vor“, sagt Kohler. Dass er seine Kompositionen sorgfältig konstruiert, bewies er schon 2017 mit dem Album „Hudson Suite“, einer musikalischen Hommage an den Fluss, der von Upstate New York bis nach New York City führt.
Und diesmal sollte es also um Tiere gehen. Kohler schrieb nicht nur der Wildsau im Berner Jura ein musikalisches Denkmal, sondern auch dem Luchs, dem er als Teenager in den Alpen begegnet war. Und den hübschen Pferden auf dem Bauernhof in der Nähe, und vor allem auch dem Rotmilan, dem in der Schweiz weit verbreiteten Raubvogel. Letzterem widmet Kohler das Stück „Red Kite“. Hier erscheint das Wildschwein-Motiv im E-Bass, und die Melodie der Bläser klingt wie der Girlandenflug des Vogels, der, nervös geworden, sein Nest verteidigen muss. „Mit dem ‚Animal Heart’ meine ich eigentlich eine Fähigkeit“, sagt Kohler. „Wir begegnen einander so oft durch einen Filter der scheinbaren Zivilisation. Wir halten uns zurück, auch mit positiven Emotionen. Ein ‚Animal Heart‘ erlaubt es uns, unsere Beziehungen würdevoll zu gestalten, unsere Gefühle zu zeigen, und wirklich füreinander da zu sein.“
Mit dem Neuzugang von Gitarrist Dave Gisler, Jazzhörer*innen bestens bekannt unter anderem durch sein fulminantes Live-Album seines Trios mit der Chicagoer Trompeterin Jaimie Branch (Intakt, 2020), hat sich „This Is Pan“, mit Lukas Thoeni an der Trompete, André Pousaz am Bass und Gregor Hilbe am Schlagzeug in den letzten zwei Jahren musikalisch bedeutend weiterentwickelt. „Ich habe mit meinen vier unterschiedlichen und sehr starken Mitmusikern ein riesiges Glück“, sagt Kohler. Nebst „This Is Pan“, seinem Herzensprojekt, spielt er in verschiedensten Formationen, vom Free Jazz-Duo bis zum Large Ensemble, sowohl als Bandleader wie auch als Sideman immer fokussiert auf den starken Ausdruck an seinem Instrument.
Die Aufnahmesession für das neue Album war für „This Is Pan“ ein euphorisches Erlebnis, auch deshalb, weil sie wegen des Lockdowns verschoben werden musste. „Wir leben in der ganzen Schweiz verteilt. Als wir uns endlich wieder sehen durften, konnten wir das gemeinsame Spielen kaum mehr erwarten. Die ganze aufgestaute Energie ballte und entlud sich im Studio – das war eine sehr intensive Erfahrung.“
Kohler wollte die Arbeit an der Musik nach den Studiotagen noch nicht beenden. Während er in all seinen vorherigen Alben vor allem darauf gesetzt hatte, Live-Musik möglichst detailgetreu wiederzugeben, sollte nun jedes Stück den Raum bekommen, sich in der Postproduktion so richtig zu entfalten. Mit André Pousaz, nicht nur am Bass, sondern auch am Mischpult ausserordentlich virtuos, fand er dafür den idealen Partner.
Zudem beauftragte er Gregor Hilbe damit, ein Stück komplett am Modular Synthesizer nachzubearbeiten. „Third Eye“ mit seinem dem spätmittelalterlichen Lied „L’Homme Armé“ entlehnten Motiv, bekam dadurch nicht nur eine zusätzliche musikalische, sondern auch eine metaphysische Perspektive. Und die norwegische Saxophonistin und Sängerin Sissel Vera Pettersen lieferte Dutzende Gesangsspuren für die Reprise des Stücks „I Saw A Lynx Once“ – dank ihrem Geflecht aus Backgroundstimmen und -rhythmen hebt die Platte nun ganz zum Schluss noch einmal richtig ab. Als ebenso fruchtbar erwies sich die Zusammenarbeit mit Grafiker und Jugendfreund Yan Hirschbühl, der mit der aktuellen bereits die siebte Produktion Kohlers illustrierte. Auf seinem Cover erscheinen sämtliche im Album gewürdigten Tiere, und das Herz, in der Musik bereits deutlich hörbar, spürt man förmlich schlagen.
Das Wildschein-Motiv
Ich schrecke auf meinem improvisierten Nachtlager im Wald hoch. Zum zweiten Mal schon. Vor ein paar Stunden – Minuten? – war es eine dröhnende Goa-Party auf dem nächsten Hügel, die mich geweckt hat.
Aber diesmal ist es etwas anderes.
Ein ursprünglicheres Geräusch.
Es grunzt im Gebüsch.
Eine Wildsau!
Ich bin ihr ausgeliefert.
Kein Zelt, keine Flinte. Ich bin kein Cowboy, nur ein Biwakierer, Koffein aus dem Bialetti-Kocher meine einzige Waffe.
Es ist stockdunkel.
Ich sehe sie nicht.
Aber ich fühle, wie sie näher kommt.
Ich richte mich auf und fülle meine Lungen.
„Fahr ab, du Sau!“
Sie grunzt noch einmal, indigniert, wer wagt es, sie derart zu stören?
Sie ist so nah, dass ich sie atmen höre.
Dann realisiert sie: ach, du bist es nur.
Du verlorene Seele.
Sie dreht sich um und spaziert davon.
Ich höre ihre Schritte auf dem Waldboden leiser werden, während mein Herz im Hals klopft.
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Veröffentlichung: 7. Mai 2021